Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
“Wie auch immer. Und es gibt nur wenig Lokalitäten, die ich als so dezent wie diese hier einstufen würde. Vielleicht, wie gesagt, ein Restaurant oder ein Caféhaus.”
“Im Grunde ist das auch keine Kneipe hier, da haben Sie recht. Nur bezeichne ich immer alles, wo ich abends hingehe, als Kneipe, egal, ob’s nun eine ist oder nicht. –Aber Ihnen gefällt ‘s hier?”
“Och, Herrje, ja, warum nicht? –ja, es ist ganz angenehm. Ich glaube übrigens, dass wir heute abend noch in den Genuss einer Vorstellung kommen werden; haben Sie das Mikrophon schon bemerkt?”
“Ähm, nein...” Christian saß mit dem Rücken zum Piano und musste sich umdrehen.
“Ja, hier gibt’s öfters Live-Musik.”
“Was bitte?”
“Live-Musik. Vorstellung sagt man heute nicht mehr, es sei denn, Sie gehen ins Theater.”
Der Martini kam.
“Das kennen Sie auch nicht, oder? Ist ultralecker.”
“So lecker wie Cola, ja, junger Freund?”
“Ach was; dieses Gesöff ist geradezu der Kern jeglicher Lebenskultur. Auf Ihrs!”
“Ja, Prosit!” meinte der andere; sie tranken, und Christian schnalzte mit der Zunge.
Der Professor hingegen blieb skeptisch.
“Das ist doch Wermut, nicht?”
“Ja, kann sein,” antwortete Christian harmlos.
“Mein lieber junger Freund, man trinkt keinen Wermut. Das ist Fusel. Nichts für feinere Zungen.”
“Ach wo. Im Gegenteil. James Bond ernährt sich nur von so was. Ach herrje, den kennen Sie ja auch nicht. O Mann, Sie haben wirklich was verpasst. Na egal. Lassen Sie doch mal den guten Bürger in der Schublade, der passt sowieso nicht zu Ihnen. Wichtig ist nur, dass es Ihnen schmeckt.”
“Ich kann mich nicht beklagen.”
Der Professor äugte ins Glas und verzog jeden Gesichtsmuskel.
“Was trinken Sie denn, wenn Sie weggehen?” fragte Christian interessiert.
“Weggehen? Sie meinen ausgehen. Nun ja, ich erwähnte bereits, dass ich mich selten in solchen Etablissements blicken lasse, am ehesten gehe ich einmal am Nachmittag ins Caféhaus. Ich trinke gerne Wein und am allerliebsten Cognac, aber nur selten und nur zuhause, und nur nach getaner Arbeit. Außer Hauses verlasse ich mich nur ungern auf die Zungen zweitklassiger Köche und Kellner. Außerhalb greife ich daher in den wenigen Fällen, von welchen da zu berichten wäre, auf ein frisch gezapftes Bier zurück.”
“Das gibt’s hier auch, natürlich. Also wenn Ihnen der Martini zu süß wird, haben Sie die freie Auswahl aus x verschiedenen Bieren: Deutschland, Holland, Amerika, Irland. Ansonsten gute Longdrinks und passable Cocktails.”
“Was immer das sei. Ich bin nicht ganz im Bilde über die gesamte Abwechslung, die der Mensch aus der Droge Alkohol herausholt.”
“Ach was Droge,” erwiderte Christian, “Volksbelustigungsmittel.”
“Nein, nein,” beharrte der andere, “Alkohol ist eine Droge, und zwar rein wissenschaftlich gesehen meines Erachtens eine der stärksten, die der Mensch kennt. –Oh, da kommt die Musik.”
Ein dunkelhaariger Mann, welcher Christian, der hier ab und zu verkehrte, durchaus bekannt vorkam, betrat die Kneipe durch eine Hintertür und steuerte auf das Piano zu, gefolgt von einer schmalen jungen braunhaarigen Frau, die sich sehr schüchtern ans Mikrophon stellte.
“Meinen Sie, das wird was zum Zuhören oder eher zum Weghören?” feixte der Professor.
Während dieser Frage hatte sich die Sängerin vorgestellt, jedoch hatte weder der Wissenschaftler noch Christian die Ansage verstanden, um so überraschter waren die zwei, und zwar aus verschiedenen Gründen, als sie sang:
LIED
Sehr vorsichtig, zart und viel zu leise hatte sie begonnen, mehrmals hatte sie, deutlich zu beobachten, von ihrem Pianisten auffordernde, aufmunternde Blicke erhalten, und sie steigerte sich allmählich in die Form hinein, die sie Lennie am Nachmittag geboten hatte. Schließlich, gegen Ende des Liedes, besaß sie wieder diese Aura aus Rauch und mädchenhaft - unschuldiger Verruchtheit in der bebenden Stimme, dass das ganze Publikum irritiert und freudig überrascht klatschte.
Christian befand sich in einem Zustand äußerster Erregung. Diese Stimme aus solch zierlicher feiner Gestalt! Sie war nur fünf oder sechs Meter von ihm entfernt; seine Neugier glitten über ihre Figur und ihr Gesicht, ohne ihren Blick je erhaschen zu können, denn ihre Augen schienen die Introspektive zu suchen und die Gäste gar nicht zu bemerken.
Eng und kurz lagen ihre Haare am schmalen, blassen Gesicht, der einzige, etwas milchige Scheinwerfer ließ das Kastanienbraun rötlich schimmern und rang ihren Wangenknochen starke Schatten ab. Christian, der sich umdrehen musste, um sie zu betrachten, bekam allmählich Probleme im Nacken, so begeistert war er von ihr: er hatte die Möglichkeit schlichtweg vergessen, sich eventuell bequemer hinzusetzen. Nur in den Pausen zwischen den Liedern nahm er auch anderes wahr als sie, so vereinnahmte sie ihn; sobald sie wieder anfing zu singen, hing er von neuem an ihren Lippen, die den vollsten und klarsten Gesang preisgaben, den er überhaupt je gehört hatte. Und gerade hatte er einen kurzen Blick von ihr empfangen! Mit einem Wort: es war um ihn geschehen.
Der Professor hingegen verfärbte sich dunkelrot. Er besaß zwar ohnehin eine recht gesunde Gesichtsfarbe, aber nun konnte man selbst in diesem Halbdunkel erkennen, dass ihn irgend etwas an dem jungen Mädchen –vielleicht peinlich– berührte. Er leuchtete wie ein Apfel in der Sonne.
Offensichtlich hatte er beschlossen, zu trinken, denn ein gerade bestellter zweiter Martini wurde hastig hinunter gestürzt, und ein dritter sollte alsbald folgen; der alte Kauz schien doch auf irgendeine Art Gefallen an dem süßen italienischen Getränk zu finden. Seine Bewegungen wurden ruckartiger, nervöser, so als könne er der Musik zum Teufel nicht zuhören; geschulte Augen konnten natürlich schnell erkennen, dass seine Unruhe mit der Musik nichts zu tun hatte.
Es gab nun eine Pause.
“Trinken Sie nichts heute?” fragte er angesichts des jungfräulichen Glases an Christians Platz, “diese Substanz wartet sehnsüchtig darauf, von Ihnen getrunken zu werden.”
Noch mehr als Christians Unlust zu trinken überraschte den Alten aber sein Gesichtsausdruck, als er sich zur Hälfte wieder Richtung Tisch umdrehte: der Mund leicht geöffnet, die Atmung stark, und in die sonst so nüchternen und etwas kühlen Augen hatte sich ein Glänzen gelegt, das dem gewieften Wissenschaftler schon lange nicht mehr untergekommen war. Er furchte die Brauen.
“Hallo?”
Doch Christians Herz pochte zu laut in seinem Hals, um irgendwelche Anreden wahrzunehmen.
Denn die Sängerin kam gerade auf die beiden zu, was er bemerkte, ohne dass er sie sehen konnte. Der Professor bemerkte aus seiner Unruhe heraus viel später, dass er auf dem besten Wege war, angesprochen zu werden.
“Sie hier?” fragte das Mädchen als erstes, und der Alte versuchte ein wenig herumzudrucksen.
“Sie kennen sich?” fragte Christian erstaunt; die Frage richtete sich allerdings aufgrund seiner natürlichen Schüchternheit eher an den Wissenschaftler als an sie.
“Klar,” meinte sie direkt, “der Herr war doch bei uns im Modern, mit ´n paar Kollegen, wenn ick mir recht entsinne.”
Christian und Wittmann waren gleichermaßen perplex; der Alte vielleicht noch mehr, da er schneller als sein neuer Bekannter begriff, dass hier irgendwas schon rein physikalisch verkehrt gelaufen war.
“Wie kommen Sie eijentlich hier her?” fragte nun die Kleine, da sie genauso wenig wie der Professor mit einem derart verschobenen Wiedersehen gerechnet hatte.