Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
meinte Markowsky langsam, “du hast noch nicht begriffen, was du getan hast. Du hast eine ganze Stadt verschwinden lassen.”
“Ach bitte!”
“Tja, Julius, du glaubst es nicht? Also schön. Ich werde dir die Erlebnisse des heutigen Tages der Reihe nach erzählen. Ich möchte sehen, was du dann sagen wirst. Wie du weißt, bin ich vorgestern mit meiner Frau auf diesen kleinen Kongress nach Rügen gefahren; nun ja, wenn man da noch von Kongress sprechen kann. –Meine Frau,” wandte er sich Christian zu, “ist ebenfalls Wissenschaftlerin. –Nun ja, gestern erreicht mich eine Depesche: mein Bruder ist gestorben.”
“Das tut mir leid,” sagte Wittmann betroffen.
“Ha –warte ab, es kommt noch schlimmer. Mein Bruder litt seit Jahren an chronischer Bronchitis; nichts zu machen, sagten die Ärzte. Und diese schwere Bronchitis ist aufs Herz übergesprungen. War nur eine Frage der Zeit, bis er von seinem Leiden erlöst würde.
Mein Bruder lebt –oder vielmehr: lebte– mit seiner Frau in Breslau; ich sage das Ihnen, Herr... ach ja, Fink ...da Sie ja auch alles mitbekommen sollen. Hören Sie überhaupt zu? Gut. Nun ja; ich habe sofort telefoniert und zugesagt, dass ich sofort kommen werde. Nach Breslau, versteht sich. Meine Frau blieb an der Ostsee, ich wollte nicht, dass auch sie den Kongress abbricht. Im übrigen ist sie etwas krank, und ich wollte ihr die lange Reise nach Schlesien nicht zumuten. Also setzte ich mich heute früh in eine Droschke, dann in einen Zug nach Berlin, um nach Breslau umzusteigen.
Kurz bevor der Zug in der Stadt einrollt, bleibt er stehen. Zunächst wird angekündigt, es gehe gleich weiter. Dann werden die Bahnbeamten irgendwann ehrlich und sagen, die Fahrt sei zu Ende, und wir könnten von Glück sprechen, mit dem Leben davongekommen zu sein. Ein Signal stand auf Rot, deswegen sitze ich überhaupt nur hier, lieber Julius. Es fehlten Hundert Meter Gleis; so viel zu deinen Unebenheiten in der Raum-Zeit-Korrelation. Haha!
Nun begann die Tortur. Einige der Fahrgäste picknickten im märkischen Sande, ich hingegen hatte es eilig und ging zu Fuß ins nächste Dorf, das zum Glück nicht sehr weit entfernt lag. Dort mietete ich mir ebenfalls eine Droschke: wie hätte ich auch sonst nach Berlin gelangen können!? Ich hatte mich auf meinem kleinen, aufgrund der Hitze recht anstrengenden Fußmarsch bereits gefragt, warum zwischen Stralsund und Berlin plötzlich Gleis fehlt, vermutete aber, es werde sich um einen böswilligen Anschlag handeln. Diesen Kommunisten ist ja einiges zuzutrauen. Als die Droschke jedoch in den Vororten Berlins eintrudelt: was müssen meine alten Augen erblicken? Eine komplett ausgewechselte Stadt! So, meine Herren, das ist das Problem.”
“Ich verstehe gar nichts,” meinte Christian.
“Tja, junger Mann, ich verstand sofort, dass mein geschätzter Freund und Kollege Julius Wittmann dahinter stecken musste. Ich will mich nun kurz fassen: wir schreiben heute den 2. September 1930. Das ist so, daran wird es nichts zu rütteln geben. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen.”
Der Professor schaute ihn totenbleich und völlig entgeistert an:
“Das kann nicht sein.”
“O doch,” entgegnete Markowsky kühl, “das kann nicht nur sein, das ist sogar so. –Sagtest du nicht des öfteren selber: <Nichts kann nicht sein>? Nun ja. In gewisser Hinsicht hattest du Erfolg. Du hast die Stadt einfach ausgetauscht und aus der Zukunft in die Gegenwart geholt. Und wir haben den 2. September 1930. Bislang dürften noch nicht sehr viele Menschen außerhalb dieser Stadt etwas gemerkt haben; wie man weiß, ist der 2. 9. ein Feiertag,” wandte er sich wieder an Christian, “und die meisten märkischen Dörfer begehen diesen Festtag, der sich Sedantag nennt; die Leute haben kein Interesse, nach Berlin hineinzufahren; umgekehrt vielleicht schon eher, will ich meinen. Man fährt aufs Land, hisst die schwarz-weiß-rote Flagge und gibt sich emotional deutschnational. So. –Ich denke, dass es einfach nur daher bislang noch keinen Aufschrei gegeben hat. Aber ich werde wohl kaum der einzige sein, der bemerkt hat, dass irgendetwas faul ist im Staate Dänemark. Ich fahre, wie gesagt, mit der Droschke nach Berlin hinein. Und bin in einer Stadt, die ich noch nie gesehen habe. Einige Leute gaffen mich an, als wäre ich gerade vom Himmel gefallen. Eine Droschke in Berlin, das scheinen sie noch nicht erlebt zu haben. Vielleicht wissen sie ja auch gar nicht, was das für ein Gefährt ist, in welchem ich sitze. Wer weiß, vielleicht haben sie auch just noch nie ein Pferd gesehen, was weiß denn ich? Ich merke nur schnell, dass es sich um entweder eine völlig andere Stadt handeln muss –oder aber um das Berlin einer Zukunft; wohlgemerkt, irgendeiner Zukunft, was inzwischen fast gar keine Rolle spielt, wie ich finde, da ohnehin alles relativ ist. Dem Kutscher kommen die Tränen, ab Pankow will er nicht mehr weiterfahren. Ich schätze zumindest, es muss irgendwo in Pankow gewesen sein. Ich bezahle ihn, und das ist natürlich das letzte, was ich in meiner guten alten Währung begleichen kann.
Mit der Zeit werde ich mir sicherer, dass es sich um Berlin handeln muss, ich kenne schließlich den Dialekt und den Geruch dieser Stadt, und ich muss schon sagen: ich war irgendwie erleichtert. Eine Weile lang hatte ich die Vermutung, dass du, lieber Julius, einfach New York oder San Francisco an die Stelle transportiert hast, an welcher in besseren Zeiten einmal Berlin stand. Nun, diese Sorge wenigstens bin ich los. Ich laufe eine Weile Richtung Innenstadt, und da Berlin ziemlich groß ist, kommt mir allmählich doch der Gedanke, ich sollte ein Fahrzeug nehmen.
Nun, Droschken gibt es keine, Taxis allerdings schon; andererseits vermute ich –wie ich jetzt weiß, zurecht– dass mein Geld hier gar nichts wert ist; die Leute haben eine neue Währung und überdies nicht die leiseste Ahnung, dass irgendwas Schlimmes vorgefallen ist. Wie zum Beispiel, dass wir 1930 haben. Also besteige ich die S-Bahn und fahre zum ersten Mal in meinem Leben schwarz.
Nun, was sollte ich tun? Mir wurde klar, dass ich schlechte Karten hatte, wenn ich nach wie vor nach Breslau wollte, und im übrigen suchte ich dich, verehrter Julius, da ich mir schon dachte, dass du das Ausmaß der Folgen deines Handelns nicht überblicken konntest. Am frühen Nachmittag kam ich bei mir zuhause an, die Tür hatte jedoch ein neues Schloss. Ich meine, mir war klar, dass du nicht weit sein konntest, schließlich ist die Zeitmaschine ja dort deponiert. Ich hoffe, das Haus ist zur Zeit unbewohnt! Wie dem auch sei: ich kam natürlich nicht hinein, und du warst ja offensichtlich zu jenem Zeitpunkt nicht dort. Ich versuchte mich in deine Lage zu versetzen, und dies führte mich zum Erfolg...
Meinen toten Bruder hatte ich dann auch fast vergessen; wie ich fand und immer noch finde, ist das, was du hier angestellt hast, eine größere Tragödie als der Tod nur eines Menschen, auch wenn ich diesen Menschen geliebt habe. Im übrigen hatte ich ohnehin kein Geld und war damit der Möglichkeit beraubt, nach Breslau zu gelangen oder wenigstens zu telefonieren. Es war eine Quälerei, mit dem Gepäck durch die Stadt zu laufen, trotzdem wollte ich dich finden. Meine nächste Station war deine alte Wohnung in Wilmersdorf; nun ja, du warst nicht dort. Ich schätze mal, Sie wohnen jetzt dort?” fragte er Christian.
“Ja, das stimmt.”
“Und er hat Sie besucht? Und Sie haben ihm tatsächlich geglaubt, als er von einer Zeitmaschine zu faseln begann? Alle Achtung. –Ich durfte mein Gepäck bei einem alten Herrn abstellen; es ist einer Ihrer Nachbarn, Herr Fink; er schien mir vertrauenswürdig, und ich erfand eine Geschichte, die ich vielleicht bei Gelegenheit mal erwähne. Der Nachbar meinte nur: <schau an, schon wieder so einer>, und da war mir natürlich klar, dass du, Julius, bereits dagewesen bist.
Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass ich diesem Herrn meinen antiken Spazierstock für einen Spottpreis verramscht habe, um nicht zu verhungern. Es war das einzige von dem, was ich dabei hatte, das ihn interessierte. –Nun ja, was will ich mit einem Spazierstock, mögen Sie fragen, Herr Fink! Diesen Stock hat mein Urgroßvater selbst geschnitzt, anno 1834; ein solches Stück überlässt man außer im Notfall keinem Unbekannten. –Als ich mich also schließlich tränenreich von meinem Erbstück getrennt hatte, dachte ich weiter nach und legte mir allmählich meinen modus operandi zurecht. Ich vermutete, dass du gewiss versuchen wirst, diesen Menschen, deinen neuen Bekannten zu überreden, irgendwas mit dir zu unternehmen, so wie es deine Art ist; du wirst ihm die Zeitmaschine zeigen und die neue Stadt sehen wollen, und so weiter; ich kenne dich ja ein bisschen. Also habe ich ein wenig gegrübelt, wo ihr heute Abend zu finden sein werdet, und ich habe mir gedacht,