Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
Und wie zum Teufel konnte es eigentlich sein, dass die junge Frau, für welche die halbe Universität heimlich und vergeblich schwärmte, jetzt und hier im Jahre 94 wieder auftauchte? Er verspürte den Drang, das irgendwie zu erklären, und insgeheim wusste er ja schon bescheid, denn die Vereinigung von Baum und Haus hatte bereits demonstriert, dass bei Zeitreisen jedweder Art offensichtlich verschiedene Unregelmäßigkeiten zum Geschäftsrisiko gehören. Da er seine Gedanken jedoch nach außen um nichts in der Welt preisgeben durfte, haspelte er ungeschickt herum: etwas Unerklärliches sei passiert, er wisse auch nicht, was los sei, und so weiter und so fort (und in Gedanken: musste das sein, geh doch fort, Kind, und hör auf, mich zu blamieren...)
Sie runzelte nur ein bisschen die Stirn, sofern es da etwas zu runzeln gab.
Ab und zu warf sie Christian einen verstohlenen, neugierig gefärbten Blick zu, welchen dieser permanent erwiderte.
Der Alte hatte allmählich ausgehaspelt, und da wandte sich das Mädchen dem andern Gast zu:
“Ick bin übrigens Charlotte. Und Sie?”
“Du,” krächzte Christian.
“Wie meinen?”
Christian räusperte sich relativ erfolglos.
“Du, nicht Sie.”
“Det wäre schon machbar,” erwiderte sie ohne jede falsche Scham, “aber eijentlich wollt ick wissen, wie du heißt.”
“Christian.”
Mit der Stimme war nichts mehr anzufangen. Charlotte griemelte kurz, dann verwandelte sich das Griemeln in ein Lächeln, welches unserem Helden eine interne Klimaerwärmung bescherte.
“Ick muss wieder uffe Bühne,” meinte sie locker, “nich wegloofen, ihr zwei!?”
Fort war sie, über die sogenannte Bühne durch die Hintertür nach Irgendwo. Christian starrte ihr mit einem berauschten Lächeln hinterher und schwebte für einige Momente überm Tisch, während sich umliegende Gegenstände und Personen vorübergehend in der Raumzeit verloren.
Von ferne gurgelte ein Echo an sein Ohr: “Lieber --lieber --Herr --Herr --Fink...”
Das “K” hallte nach und zog ihn langsam auf die Erde zurück.
“Lieber Herr Fink,” meinte eine sonore Stimme zu ihm, “vielleicht sollte ich Ihnen etwas erklären.”
Christian brauchte eine Weile, um diese Anrede zu begreifen, doch allmählich hatte ihn die Wirklichkeit wieder, und er hörte zu.
“Ich weiß nicht, ob Sie’s bemerkt haben, dass wir uns kennen,” versuchte der Professor zu erläutern, “ich meine natürlich das Mädchen und mich; Sie waren ja ganz offensichtlich eine Weile lang nicht ansprechbar. Nun, wir kennen uns aber tatsächlich, wenngleich nur flüchtig und oberflächlich. Wissen Sie, was das heißt?”
Der Alte hatte nun seine Sprache wiedergefunden und versuchte seinem Gegenüber eine logische Verknüpfung zu erklären.
“Nein,” quakte Christian.
“O je, lieber guter Freund, wo ist denn Ihr Verstand hingeflogen? Kaum ist man verliebt, geht die Intelligenz flöten, nicht wahr? Der Mensch verliert jedes Mal, wenn er sich verliebt, mindestens zehntausend Gehirnzellen, das ist meine Theorie; und wenn er heiratet, gleich eine Million. Es gibt keine effektivere Möglichkeit, sich zu ruinieren; ein Vollrausch mit anschließendem Koma ist ein Witz dagegen. Hören Sie zu! Ich kenne dieses Mädchen.”
“Schön.”
“Das heißt: sie hat meinen Zeitsprung mitgemacht. Noch eine Unregelmäßigkeit. Hören Sie, das ist nicht lustig; das Mädchen tut mir leid. Und ich möchte wissen, welche Überraschungen wir sonst noch erleben.”
Kurzes Schweigen.
“Ich find's ganz schön, dass Sie sie mit rüber gebracht haben,” seufzte Christian.
“Tja, ich bin weniger begeistert. Ich muss dem armen Kind doch eigentlich erklären, was los ist.
Ich habe doch nicht gewollt, dass so etwas passiert. Die Arme war doch wahrscheinlich völlig verstört.”
“Ach, ich finde, sie schlägt sich wacker.”
“Ja fabelhaft!” trötete der Wissenschaftler, „die Kleine gehört nicht hierher –das ist der Punkt, und nicht, wie sie sich schlägt! Auf gut Deutsch: unser Geheimnis wird nicht mehr lange eines sein.”
“Es ist schon jetzt keines mehr,” sagte eine helle, ernste Stimme von der Seite.
Die beiden schauten auf.
Kurze überraschte Pause.
“Friwi!” rief der Wissenschaftler, “jetzt schlägt ‘s aber dreizehn!”
“Guten Abend,” meinte der Angesprochene ruhig und sachlich, “willst du uns nicht vorstellen?”
Er deutete auf den frisch Verliebten mit den großen Augen.
“Ach ja, natürlich; Friwi, das ist Christian Fink, Architekt und mein Begleiter durch diese neue Zeit; Herr Fink, dies ist Friedrich Wilhelm Markowsky, mein herausragender Freund und Kollege, in dessen Haus wir uns heute umgesehen haben und dem ich einiges, wenn nicht alles, verdanke.”
Händeschütteln.
“Friwi, alter Junge,” maunzte der Professor, “wieso bist du eigentlich hier? Erst dieses Mädchen...”
“Die Sängerin, die mal Tänzerin war?”
“Genau.”
“Julius, du hast Mist gebaut.”
“Haha!” trompetete der Kritisierte, “du hast es mir ja nicht glauben wollen, was? Zeitmaschine!” imitierte er ihn spöttelnd, “Zeitmaschine –das geht nicht, lass es doch sein, verschwende nicht deine Zeit! Das funktioniert doch niemals!”
“Es hat auch nicht funktioniert.”
“Was? Haha! Wo befinden wir uns denn? Und, bitte, wann? Bitte, Christian, mein lieber junger Freund, sagen Sie dem netten Herrn doch, welchen Tag wir haben.”
“Es ist der 2. September 1994.”
“Tja, Friwi!” Der Alte warf sich in die Brust. “So sieht‘s nämlich aus, mein kleiner Versuch wurde ein voller Erfolg. Auch dich hat wohl eine Unebenheit in der Raum-Zeit-Korrelation mitgenommen. Und du weist einige Symptome akuter Verwirrung auf. Setz dich doch bitte.”
Friwi Markowsky setzte sich. Erst jetzt konnte man ihn besser erkennen. Ein ebenmäßiges, wenig gealtertes schmales Gesicht kam zum Vorschein. Fahlblaue Augen flossen wahrlich über vor Melancholie, die graue Gesichtsfarbe schien sich mit dem aschblonden, schütteren Haar zu decken.
Er war ähnlich gekleidet wie der Professor, wenn man einmal von seiner langen, schlanken Figur absah, und davon, dass seine Klamotten einen teureren und frischeren Eindruck machten und auf größeren Wohlstand oder besseren Geschmack zu deuten schienen. Allerdings täuschte das schummerige Licht auch ein wenig, selbst Wittmann wirkte viel rosiger und jünger als sonst.
“Du solltest dich rasieren, Friwi!” witzelte dieser, “man erkennt ja Doktor Markowsky kaum noch!”
“Mir ist nicht nach Scherzen zumute,” antwortete der Angesprochene mit Grabesstimme:
“Wir haben ein gewaltiges Problem. Du hast Mist gebaut, Julius, kolossalen Mist: wie ich sagen muss, zum ersten Mal in deinem Leben. Du hast einen schwer wiegenden und vielleicht nie wiedergutzumachenden Fehler begangen. Ich bin versucht, ein Fäkalwort zu benutzen.”
“Ach was, wieso denn?” Wittmanns scherzende Miene war nun einer abwartenden gewichen; er kannte seinen Freund gut und hatte ihn selten so verdüstert gesehen.
Zwar neigte Markowsky zum Pessimismus, er war ein ernster und eher stiller Mann, der nur schwierig zum Lachen zu bringen war –aber er besaß keinen Hang zur Übertreibung, und so lag etwas Sorgenschweres