Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
ungelerntes oder nur angelerntes Personal; eine Anstellung zu finden, war noch bei weitem schwieriger als heute, besonders für eine Frau, der weit weniger Auswahlmöglichkeiten geboten wurden. Sie war daher durchaus verwundert, als sie immer wieder in den Schaufenstern Gesuche las wie: “Aushilfskraft gesucht! Telefon 030-...” Sie hätte also eigentlich nur in irgendein Geschäft X gehen müssen, sei es Bäckerei, Supermarkt oder Elektrowarenhandel, und fragen; sie hätte eine Stelle bekommen. Schließlich war sie nicht besonders anspruchsvoll, wenn es ums Geld verdienen ging; das durfte man als Frau von 1930 auch nicht sein. Aber irgendetwas trieb sie weiter und ließ sie nicht auf die aus ihrer Sicht durchaus verlockenden Angebote eingehen. Sie hatte ein komisches Gefühl, als werde sie heute, demnächst, was Richtiges finden, wo man vielleicht sogar Spaß an der Arbeit haben könnte. Das Seltsamste war, dass sie ein solches Gefühl wirklich noch nie in ihrem Leben verspürt hatte. Lag das vielleicht an der neuen Zeit? Verströmten die Neunziger vielleicht einen Optimismus, der dem Weltwirtschaftskrisenjahr, aus dem sie kam, total abging? Gewöhnte sie sich schon langsam an den Gedanken, in einer ihr fremden Zeit unterzukommen? Wir lernen sie gerade kennen: sie war nicht der Mensch, den das Warum für ein Gefühl interessiert; sie besaß das Gefühl, und Schluss.
Nur der Hunger störte; inzwischen zwickte der Magen barbarisch, und das, obwohl Charlotte eher spartanisch lebte: sie kam mit wenig Essen und Trinken am Tag aus, mit so wenig, dass sich ihre Mutter schon Sorgen machte; und in unserer Zeit, in der wir hinter allem gleich Krankheit und Abnormität vermuten, wäre sie wohl glatt als magersüchtig eingestuft worden. Was sie gleichwohl nicht war. Tja. Aber der Magen grummelte; er war, über den Daumen gepeilt, runde vierundzwanzig Stunden leer und forderte nun sein Recht.
In einer Seitenstraße irgendwo am Beginn des Prenzlauer Berg fand sie schließlich ein Lokal. Es hieß ausgerechnet “Charleston” und ließ Charlottes Augen aufleuchten. Irgendwoher wusste sie: sie war da.
Es wirkte nicht gerade unscheinbar, sah aber auch weder nach einem Nobelschuppen der Extraklasse noch nach einer besonders individualistischen oder flippigen In-Kneipe aus; der Name verteilte sich breit über eine Art Flügeltür, an die sich links und rechts zwei ziemlich große Fenster anschlossen; und das war es auch schon, sonst wies nichts auf eine besondere Lokalität hin.
Ein Wirt putzte gerade Gläser; obwohl leer, schien das Etablissemang offen zu haben.
Sie betrachtete den Wirt zunächst vorsichtig durchs Fenster; er war von stattlicher Figur, ohne dick zu sein, hatte dunkles, offenbar gegeltes Haar und vielleicht fünfunddreißig, na, sagen wir, achtunddreißig Jahre hinter sich gebracht. Wie er die Gläser putzte, konzentriert und in diese nicht wirklich anspruchsvolle Tätigkeit vertieft, strömte er einen ungestörten und in sich ruhenden Frieden aus, dass Charlotte ihn sogleich in ihr großes Herz schloss.
Sie klopfte zögerlich und trat ein, der Wirt sah kurz auf und meinte: “Wir haben geschlossen.”
Sein leichter, melodischer Akzent verriet ihn als Sachsen.
“Ick hab nur ne Frage.”
Der andere machte sich keine Mühe aufzusehen, aber er schien sich von der Gegenwart des Mädchens überhaupt nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
“Ick meine,” begann Charlotte schüchtern und kam alsbald ins Stottern, “et is so, also, icke-- also, so, dass..... ick brauch Geld und hab keins.”
“So geht’s uns allen,” antwortete der Wirt, “willst du hier arbeiten?”
“Ja, det wär ideal, weil ...”
“...du kein Geld hast, schon klar. Sprich doch mit Lennie! Tja, also... heute abend hab ich schon zwei, das wird wohl ausreichen, heut wird nich viel los sein. Aber morgen vielleicht als Aushilfe?”
Sie meinte, sie könne sowieso alles, und sie wäre dabei, noch besser aber könne sie tanzen.
“Nee, so was machen wir nicht, junge Frau.”
Da er ihr sympathisch wirkte, ging sie vorsichtig in die Offensive, wenn schon nicht tanzen, dann halt wenigstens heute bedienen; schließlich war sie wirklich unglaublich verdammt pleite und brauchte definitiv sofort Kohle.
“Ojeoje,” meinte dieser und stellte ein nicht sauber zu kriegendes Rotweinglas auf die Theke. “Abgebrannt, wa? Kann ich nischt machen. Haste keine Freunde inner Stadt?”
Charlotte wollte fast „doch“ sagen, aber da fiel ihr ein, dass präzise Antworten heute ihr Ding nicht sein konnten. Tränen schossen in ihre Augen, und sie gab sich alle Mühe, sie zurückzuhalten.
“Na ja, ick meine, nur wegen den Kröten, hab halt nischt zu fressen und zu pennen, da dacht ick, ob vielleicht heute schon wat machbar wäre.”
“So allein? So arm? Na ja, Großstadt eben, man kennt das. Also heute hab ich schon zwei Bedienungen, wie gesagt. Denen kann ich schlecht sagen, nö, heut nich –das ist nicht meine Art. Sorry. Ab morgen sieht die Welt ganz anders aus. Und wenn du ne Unterkunft suchst, da ließe sich was machen.”
Charlotte erschrak. Das hatte schon mal jemand in ähnlichem Kontext zu ihr gesagt, ihr ein Lager angeboten und sich dann als Grapscher herausgestellt. Charlotte fühlte sich nur mittelmäßig behaglich. Er hingegen wandte sich offensichtlich desinteressiert und in aller Seelenruhe wieder seinen Gläsern zu.
“Findeste mich nich hübsch, det is besser so.”
“Das vielleicht doch...” Er setzte das eben behandelte Glas wieder ab und lächelte.
“Eigentlich schon. Bist hübsch. Aber ich seh das aus nem anderen Blickwinkel, wenn du verstehst.”
Charlotte stand völlig auf dem Schlauch und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
“Meine Güte, du siehst gar nicht so begriffsstutzig aus... also wie gesagt, is alles kein Problem, vorausgesetzt, mein Freund hat nischt dagegen.”
“Du bist schwul,” fragte Charlotte mit sich erhellendem Blick, “det find ick ja super.” Der Typ gefiel ihr doch.
„Hm?“ fragte er undeutlich nach.
“Na, du lebst mit deinem Freund zusammen, immerhin, det... also det hat sich wirklich verändert.”
Da der andere nicht wusste, dass sie eine unfreiwillige Zeitreise hinter sich hatte, war er etwas überrascht von dem Wort “verändert”; er bezog es schließlich auf die Tatsache, dass sie eigentlich hinterm Mond leben musste.
“Hör zu,” sagte er, “das geht schon klar, wenn dir mein bescheidenes Heim reichen sollte, vorläufig, wie gesagt, und wenn mein Mann nischt dagegen hat. Ich bin ja kein Arschloch, das arme Frauen einfach in der Kälte pennen lässt. Aber was willst du machen, wenn nicht Bedienung?”
“Na - jaaa, ick kann schon kellnern, so is det nich. Würde natürlich lieber det machen, wat ick richtig kann.”
“Klar. Ich auch. Man kann sich nich alles aussuchen. Übrigens gibt’s zehn die Stunde...”
“Mark?” fragte Charlotte entgeistert. Sie war andere Zahlen gewöhnt.
“Na klar, was denkst du denn? Pfennig? Lire? Haha. Du bist ja putzig.”
Sie musste sehr weit hinterm Mond leben. – “Zehn Mark bar auf die Kralle. Plus Trinkgeld.”
“Det is ziemlich viel, find ick.”
“Alter Osten, was? Na, es ist vielleicht nicht schlecht, aber auch nicht gerade fürstlich. Mehr kann ich mir nicht leisten, tja. Aber sei guten Muts, so wie du ausschaust, kriegst du gut Trinkgeld.”
Er hauchte in ein Cocktailglas und beäugte es kritisch.
“Du kannst nicht zufällig singen, was?”
Charlotte riss die Augen auf, und zwar sehr weit: “Doch”, stammelte sie.
Der Wirt beschloss nun, die Frage des Tages zu stellen.
“Wie sieht’s denn so aus mit Chansons, vielleicht aus den Zwanzigern und Dreißigern?”
Charlotte