Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
klar.” Charlotte hätte fast hinzugefügt: guck mich doch mal an! aber das ließ sie schön bleiben, sie hatte sich schon genug blamiert.
“Du siehst auch irgendwie ein bisschen so aus. Nimm’s mir nich übel. Irgendwie musste ich bei dir gleich an Zwanziger Jahre denken. –War ne geile Zeit, glaub ich.”
Er guckte voller Hochachtung in die Luft.
“Also gut. Pass uff,” sprach er weiter, “ich hatte für heute abend eigentlich jemand eingeplant.
Sie singt Chansons aus der Zeit, na, Zwanziger, Dreißiger, so ’n Kram. Aber sie is krank, und die ganze Chose fällt aus. Das spart mich dreihundert Piepen, aber mein Umsatz sinkt in den Keller. Freitags erwarten die Leute so was, immerhin heißt das Loch hier nich umsonst <Charleston>. Na ja, wir machen es so: du singst heute abend. Sag mir, was du drauf hast.”
Charlotte zählte freudig erregt auf.
“Jaja, schon gut,” unterbrach er sie fröhlich, “das könnte hinhauen. Das passt für ’n Anfang.”
“Ja, und wat is mit Klavier; hast du ’n Pianisten?”
“Der steht vor dir.”
“Det is ja knorke!”
Der Wirt lächelte.
“Ich heiße übrigens Lennie. Sonst auch Leonhard. Ganz wie belieben.”
Charlotte stellte sich brav vor, und sie schüttelten Hände.
“Wir machen das so. Du singst heut probeweise, ohne Bezahlung, Essen und Trinken umsonst, klar. Wir probieren das jetzt mal. Das Klavier ist hinten. Wir müssen wenigstens alles einmal gespielt haben, sonst geht das in die Hose. Und ich will ja meinen Gästen was bieten, ni war?”
“´tschuldjung, kann ick erst ma wat essen?”
“Höhö,” flötete Lennie und kramte von irgendwoher eine Schrippe (=Brötchen, Übersetzung für Nichtberliner) hervor. Charlotte schlang gierig; mehr musste es ja für den Anfang nicht sein.
Sie war genaugenommen richtig glücklich. Lennie schloss die Tür ab, latschte in den hinteren Teil der Kneipe und setzte sich an das dort befindliche, altehrwürdige Piano: “Nu?”
Sie kam nach und stellte sich etwas unsicher neben das Instrument.
Er schlug ein paar Töne an, und sie stieg direkt ein:
LIED
Als die letzten Töne verhallten, schaute Lennie seine frischgebackene Sängerin fasziniert an.
Das war nämlich durchaus verdammt gut gewesen.
“Das ist ja unglaublich,” meinte er bewundernd.
Charlotte fühlte sich geschmeichelt und bekam zum erstenmal heute so etwas Ähnliches wie eine Gesichtsfarbe. Vom Singen hatte sie immer geträumt.
“Also, an deiner Intonation musst du noch ein bisschen arbeiten. Aber deine Stimme ist der Hammer.”
“Der Hammer?”
“Ja, geil, toll. Wirklich. Mach was draus! Für heute abend mach ich mir erst mal keine Sorgen. Deine Stimme hat dieses gewisse Etwas, das man selten hört.”
Tatsächlich war es erstaunlich, welche rauchige Kraft aus diesem zarten Geschöpf herausströmte.
Die beiden hatten noch etwas über eine Stunde, bis der Laden aufmachte, und nutzten diese Zeit zu einer zügigen Probe.
Christian und der Professor hatten sich derweil entschlossen, diesen Abend auf den Putz zu hauen. Allerdings war der jüngere der beiden sich nicht sicher, ob sie jeweils dasselbe darunter verstünden; immerhin zählte der Physiker selbst ohne Zeitsprung vierundsechzig Lenze und war somit doppelt so alt wie Christian; und bei diesem Generationenunterschied, auf den noch die übersprungene Zeit hinzugerechnet werden musste, konnte man durchaus von verschiedenen Geschmäckern und Vorstellungen ausgehen.
“Ach, wissen Sie,” raunte der Professor gütlich, “führen Sie mich irgendwohin, wo immer Sie hin wollen. Sie kennen ja das Berlin dieser Zeit unzweideutig besser als ich, und außerdem haben Sie das Portemonnaie.”
“Ich hab schon ein paar Ideen. Also! Folgendes. Sie haben die letzten vierundsechzig Jahre nicht mitbekommen. Ihnen wird schon aufgefallen sein, dass sich die Leute heutzutage anders anziehen.”
“Das wäre ja auch mehr als verwunderlich,” trompetete der Physiker, “meinen Sie, ich werde ausgelacht, so wie ich aussehe?”
“Nein, Quark. Das ist Berlin. Hier können Sie auch nackig herumlaufen. Aber die Aufmerksamkeit ist auf Ihrer Seite. Irgendwann werden wir Ihnen aber doch ein paar Klamotten besorgen müssen, bevor Sie anfangen zu stinken. Sie können ja nicht ewig in diesem Zeug stecken bleiben.
Ich für mein Teil gehe jetzt duschen. Sie können natürlich auch, wenn Sie wollen.”
“Es wäre das erste Mal in meinem Leben.”
“Ach du je. Uff. Aber irgendwann...”
“...ist immer das erste Mal, ich weiß; ich kenne diese Redensart. Ich werde es probieren. In meiner Zeit legt man sich in die Wanne.”
“Ein teurer Spaß. Na ja, fühlen Sie sich wie zuhause. –Sie wissen, wie ich das meine.”
Als er dann nach einer guten Viertelstunde, nur mit einem Handtuch bekleidet, wiederkam, begann der Professor mit einem kleinen Vortrag.
“Ich habe alle Geräte verstanden,” sagte er, ohne aufzublicken, und zeigte auf diverse Bedienungsanleitungen, “und das war auch nicht allzu schwer. Das Gerät unterhalb Ihres Fernsehers ist genauso aufgebaut wie dieses CD-Grammophon, obgleich es eine völlig andere Funktion hat. –Sie nennen offenbar heute Video, was wir früher unter Film verstanden. Die Zeichensprache darauf ist jedenfalls offensichtlich für Idioten und Analphabeten geschaffen. Ihr sobezeichnetes Kassettendeck verstehe ich als eine Art Tonbandgerät in Kleinformat; auch dies war nicht schwer zu ergründen. Ihren Kühlschrank und Ihr seltsames Gerät daneben... wie heißt es gleich?...ach ja, Mikrowelle! Diese beiden Dinge durfte ich ja bereits begutachten. Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir in meiner Zeit den Kühlschrank auch schon kannten. Die eigentliche, tiefere Funktion der Mikrowelle ist mir ein wenig suspekt, muss ich ehrlich hinzufügen. Eine Art Backofen vielleicht? Ich habe einen Einwand gegen Ihre Zeit, aus dem Sie keineswegs ein persönlichen Angriff herauslesen sollten: Sie haben sich viel weniger weiterentwickelt als ich vermutet hätte.”
Christian trocknete sich leidenschaftlich ab und ließ ein “Höüää?” hören.
“Jaja, mir war klar, dass Sie sich dagegen sträuben würden, was ich Ihnen zu sagen habe. Wie eingangs erwähnt: dies ist keineswegs eine Kritik an Ihnen, mein junger Freund. Es ist alles mehr Schein als Sein, aber das hatte ich befürchtet, da meine Zeit diese Neigung bereits in sich trug –und was läge näher als zu vermuten, dass eine solche Neigung in der Zukunft noch verstärkt würde?”
“Professor,” wandte Christian ein, doch Wittmann hatte Lust, noch ein bisschen zu dozieren.
“Sie müssen wissen, dass wir das Radio schon kennen, ein durchaus revolutionäres Prinzip; wir besitzen schon die Hälfte Ihrer Kücheneinrichtung, wie ich finde, die sinnvollere Hälfte.
Wir kennen und benutzen das Grammophon, aus welchem Sie den CD-Spieler gemacht haben. Und wir haben den Film, den Sie jetzt Video nennen. Was hat sich denn wirklich verändert?”
“Lieber Professor, das ist doch nicht der Punkt. Sie haben doch noch lange nicht alles gesehen.
Und eine Sache, mal nebenbei: diesen CD-Spieler, den Videorecorder, und all die anderen Dinge, die Sie hier sehen, vom Kühlschrank ganz zu schweigen: das hat heutzutage fast jeder! Es ist ja auch eine Errungenschaft, dass sich praktisch alle Menschen oder zumindest die überwältigende Mehrheit diese Sachen leisten können, oder? Hatte denn in Ihrer Zeit jeder Radio, Film, Grammophon?”
“Nein,