Das große Bumsfallera. A. J. Winkler

Das große Bumsfallera - A. J. Winkler


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ins Konzert, und die Kinos haben vollere Kassen als je zuvor.”

      “Ja, aber tut man das auch noch? Ich meine, wenn jeder diese kleinen Geräte hat, wozu vor die Tür gehen? Lohnt sich das alles überhaupt?”

      “Und wie! Ich glaube schon, dass die Leute heutzutage mehr und vielleicht auch regelmäßiger zum Beispiel ins Kino gehen als vor sechzig Jahren. Oder meinetwegen auf irgendwelche Konzerte. Hängt natürlich ganz davon ab, wer spielt, oder welcher Film geboten wird. Klar. Und für den Geschmack meiner Zeit hafte ich, bitte schön, nicht.”

      Der Physiker nickte bedächtig mit dem Kopf.

      “Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Sie haben mich nicht überzeugt. Allerdings haben Sie in einem Punkt ja recht; ich habe noch viel zu lernen und sollte nicht allzu hastig urteilen. Nun! Für heute ist es gut, wir werden morgen weitersehen, und vielleicht glaube ich Ihnen auch, wie toll und sagenhaft Ihre Zeit ist.”

      “Das ist wohl ein Missverständnis,” erwiderte der jüngere, “ich habe nicht gesagt, dass die Zeit toll ist. Nur: sie hat ihre Vorteile, und die sollte man nicht kleinreden. Sonst ist man schnell auf dieser Fortschritts-Verdammungs-Schiene, Sie wissen schon, was ich meine.”

      “Natürlich, ich bin Physiker, Sie rennen gerade eine offene Tür ein.”

      “Schon gut. Gehen Sie jetzt ruhig mal duschen; Sie werden sehen, es wird Ihnen gut tun.”

      Eine gute halbe Stunde später bewegten sich die zwei in Richtung der U-Bahn-Haltestelle Heidelberger Platz. Für den Zeitgast sollte es die erste Fahrt im Keller der Stadt sein, und Christian musste ihn einige Minuten lang weich klopfen, damit er einwilligte.

      “Natürlich gibt es das auch in meiner Zeit,” hatte er erläutert, “aber ich war in dieser Hinsicht immer etwas konservativ. Ich fand es immer eher unheimlich, in den Eingeweiden einer Stadt herumzugraben.”

      “Ich dachte, Sie sind ein Mann des Fortschritts,” hatte Christian erwidert, worauf der Professor nur noch einige ängstliche Einwände bringen konnte und sich alsbald mürbe ergab.

      “Es ist ohnehin ein Witz,” ergänzte Christian, als sie die Treppen zur Station hinabstiegen,

      “die U-Bahn fährt ja zu weiten Teilen überirdisch, am Prenzlauer Berg zum Beispiel überqueren Sie mit der U-Bahn ganze Straßenzüge und die S-Bahn noch dazu.”

      “Das ist sozusagen meine Jungfernfahrt, also halten Sie mich notfalls fest,“ antwortete der andere, immer noch ängstlich, „ich war im übrigen stets ein überzeugter Fußgänger.”

      “Löblich, löblich. Und wie haben Sie weite Strecken in Berlin zurückgelegt? Wenn Sie etwa, so wie wir heute, von Wilmersdorf auf’n Prenzlauer Berg wollten?”

      “Ach Gottchen, Sie reden zu viel und denken zu wenig. Es gibt Straßenbahnen, Omnibusse, Taxen. Letztere waren stets mein bevorzugtes Fortbewegungsmittel innerhalb der Stadtgrenzen. Allerdings bin ich ein arbeitsamer Mensch, der es sich nicht leisten kann, ständig in der Gegend herum zu fahren.”

      Mit einem Lufthauch von links kündigte sich die Ankunft eines Zuges an.

      “Ich schätze, da kommt was,” meinte der Professor, dem eine gewisse Anspannung anzumerken war; unter der Erde schien er sich rätselhafterweise nicht besonders wohl zu fühlen.

      “Das finde ich irgendwie immer wieder von neuem witzig,” ergänzte Christian, “dass man die Bahnen erst spürt, dann hört und zuletzt sieht. Ist irgendwie die falsche Reihenfolge.”

      Die Bahn rauschte herein und hielt quietschend. Der alte Wissenschaftler wirkte etwas verunsichert; ein Gefühl, welches sich während der Zugfahrt noch steigerte. Man muss dazusagen, dass die Fahrt vom Heidelberger Platz auf den Prenzlauer Berg eine kleine Reise durch die halbe Stadt ist, die einmal zum Behufe des Umsteigens unterbrochen werden muss. Dabei ändern sich natürlich auch die Gesichter, die Kleidung und das Verhalten der Leute ständig, was den offensichtlich ohnehin leicht klaustrophobischen Professor doch zunehmend irritierte. Nach dem Umsteigen auf die U2 beruhigte sich der Ältere jedoch allmählich und begann seine vorübergehende ungewohnte Umgebung vorsichtig, aber neugierig zu betrachten. Neben einer älteren bebrillten, Zeitung lesenden Dame saß ein junges knutschendes Pärchen, eines von der Sorte, welche aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus kommt und alles komisch zu finden scheint. Ein ziemlich alter Mann mit starkem Berliner Akzent bekam zwei Plätze weiter seinen winzigen, ununterbrochen kläffenden Hund nicht in den Griff und zerrte ungeduldig an der Leine. Zwei Punks lehnten gemütlich an der Tür und unterhielten sich über eine gemeinsame Freundin, später dann über die Vorzüge verschiedener Biersorten; ihre Sprache schreckte den Mann aus den Dreißigern ziemlich ab; jedoch versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, die zwei sahen irgendwie gefährlich aus.

      An der Mohrenstraße stiegen vier sehr junge Mädels ein, die offenbar gewillt waren, die Geräuschkulisse des Hundes zu übertönen, und das arme Tier damit völlig verstörten. Wittmann war der Ansicht, dass sie arg frieren müssten. Weiter hinten im Wagen unterhielt sich eine Gruppe jüngerer Angestellter, von denen jeder völlig verschieden aussah, die aber alle gleich gekleidet waren, was der alte Professor höchst vergnügt zur Kenntnis nahm; seine anfängliche ängstliche Unsicherheit wich allmählich einem Gefühl behaglichen, interessierten Staunens.

      Am Senefelder Platz war für sie Endstation.

      “Hören Sie mal, das ist ja wie im Zoo,” meinte der Alte amüsiert beim Aussteigen, “Hier kann man ja wirklich noch etwas lernen. Keine Sorge, ich meine das nicht böse. Aber ich habe nicht gewusst, was das menschliche Haar alles mit sich machen lässt. –Im übrigen ein Kompliment an Ihre Zeit: die Bahnen sind umsonst. Herzlichen Glückwunsch!”

      Christian lachte:

      “Achje, wie süß! Umsonst! Nein, nein, wir sind schwarz gefahren. Haben Sie nicht die Schilder gesehen von wegen <erhöhtes Beförderungsentgelt>? Ist im übrigen mein absolutes Lieblingswort.”

      “Herr Fink! Warum denn dieses? Man kann doch nicht schwarz fahren!”

      “Es war doch Ihr erstes Mal, und ich dachte, wenn es Ihnen nicht gefällt, kann die BVG auch keine Kohle dafür kriegen.”

      “Sagen Sie mal, wie reden Sie eigentlich? Wenn ich eine Leistung in Anspruch nehme, muss ich doch auch dafür zahlen, es sei denn...”

      “Ja, ja, schon gut. Heute Nachmittag sind Sie noch fröhlich in fremder Leute Eigentum herum spaziert. Egal, Schwamm drüber, ich hätte Sie schon da wieder rausgehauen.”

      Christian grinste weiter und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Sie gingen schweigend um ein paar Ecken, und schließlich meinte er: “So, wir sind da.”

      Er zeigte auf eine Flügeltür, auf welcher sich das Wort “Charleston” gleichmäßig verteilte.

      “Das könnte Ihnen gefallen. Ob der Schuppen das Ambiente wirklich trifft, kann ich nicht beurteilen, aber er macht auf 20er Jahre. Sie können das dann ja mal kommentieren.”

      Sie betraten die etwas schummerige, dem Leser vielleicht noch ganz von ferne bekannte Kneipe; an der rechten Seite zog sich eine blitzblanke Bar in die Länge, der Raum selber war, etwas chaotisch, mit kleinen runden Marmortischen gefüllt, im hinteren Abschnitt stand ein Klavier, das von einer seltsamen kitschigen Stehlampe neblig beleuchtet wurde, daneben zeigte ein Ständer mit dazugehörigem Mikro in die Luft. Besonders voll war es nicht, nur an wenigen Tischen saßen Pärchen, die sich leise zu gedämpfter Jazzmusik unterhielten oder anschwiegen.

      Einen gewissen Charme versprühte der Laden durchaus; man wurde jedoch nicht wirklich genötigt, an die Zwanziger zu denken. Christian steuerte, den Alten im Schlepptau, einen Tisch ziemlich genau in der Mitte des Ladens an; man setzte sich und orderte Martini.

      “Und? Was meinen Sie?”

      “Hm,” überlegte Wittmann, “ich bin natürlich kein Kneipengänger, auch in Nachtclubs bin ich nur höchst selten unterwegs. Ich muss allerdings sagen, dass dies hier weder nach einer Kneipe noch nach einem Club aussieht, sondern am ehesten


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