Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
zum Beispiel.”
“Haha, natürlich. Er ist ein dummer Kerl, aber so grausam es ist, ihm zuzuhören, muss man doch zugeben, dass er sagt, was er will. Ihr Bürgermeister hier mag ein anständiger Kerl sein –ich kenne ihn ja nicht– aber das einzige, was er uns zu sagen hatte, war: wir haben keine Ahnung und wissen nicht, was mir machen sollen. Und das alles in eine Menge Worthülsen verpackt.”
Christian lächelte: “Ja, genau so ist das halt heutzutage.”
Der Professor verzog die Mundwinkel, als wisse er nicht, ob nun eine abschätzige Bemerkung am richtigen Platz sei –schließlich hatte sein Gastgeber, wenn man ihn so nennen mag, diesen Fehler der Zeit schon eingeräumt.
„Wo wir gerade von Hitler und den Nazis sprachen: was haben Sie davon eigentlich mitbekommen, ich meine von Nationalismus und Antisemitismus?“
“Oh, eine ganze Menge; schließlich ist jener Friwi –dieser Spitzname ist übrigens die Abkürzung für Friedrich Wilhelm, falls ich’s Ihnen noch nicht erläutert habe–, mein bester Freund Markowsky, in dessen Haus wir eben meine Maschine bestaunt haben, Jude, und da bekomme ich ab und zu natürlich etwas mit. Ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass man es als Jude in Deutschland nicht gerade einfach hat –auch wenn ich selber davon sozusagen nur am Rande betroffen war.
Aber ich vertrat durchaus die Ansicht, dass sich das irgendwann legen wird. Ab und an schwillt das Geschrei an, dachte ich, und es beruhigt sich auch wieder. Und irgendwann wird die Neuzeit über das Mittelalter gesiegt haben, und man nimmt endlich Abstand von der alten Mär des Brunnenvergifters. Und man lässt endlich von diesem schädlichen Nationalismus ab, der die Menschen in Rassen einteilen will, in überlegene und minderwertige, was wissenschaftlich ohnehin völliger Blödsinn ist und dennoch bei vielen meiner Kollegen durchaus Resonanz gefunden hat.
Ja, ich dachte eigentlich, diese Krankheiten –und es sind wirklich Krankheiten, geradezu im pathologischen Sinne– würden mit der Zeit geheilt, durch bessere Schulen, mehr Wissen, mehr Aufklärung, und durch die Überwindung der Feindschaften zwischen den Völkern.”
“Dafür musste wohl erst der Krieg verloren gehen,” warf Christian ein.
Sein Gegenüber wiegte skeptisch den Kopf hin und her.
“Ich bin mir nicht sicher, ob Krieg ein gutes Argument ist. Mir schien das Schwingen von Beilen gegenüber dem gesprochenen Wort stets überaus archaisch, im negativsten Sinne des Begriffes. Ich war der Meinung, dass auch dieses Gespenst irgendwann seinen Schrecken verloren haben würde. Nun haben Sie mich vielleicht eines besseren belehrt.”
“Tja, ich weiß nicht,” erwiderte Christian bescheiden, “was mich interessieren würde: wie steht man in Ihrer Zeit zu den Dingen, den Nazis, den Kommunisten, den Antisemiten und so weiter? Haben Sie in Ihrer Zeit wirklich schon erahnt, was mal später passieren kann?”
“Na, von Kommunisten bekomme ich nur etwas mit, wenn die sich mal wieder an einem Streik versuchen und im Reichstag den Mund allzu voll nehmen. In den Kreisen, in denen ich mich, wenn überhaupt, bewege, hat niemand etwas für sie übrig.
Der Nationalismus hingegen ist des Deutschen Religion, und dass man an den Juden nichts Gutes finden will, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Ganz besonders übel ist es natürlich gerade in kleineren Städten, wo meistens überhaupt nur eine Handvoll Juden lebt. Heiratet einer von ihnen zum Beispiel eine Christin –die meisten sagen ja inzwischen nicht mehr Christin, sondern Deutsche!– dann heißt es, meistens hinter vorgehaltener Hand: <Sehen Sie, da hat wieder einer eine rumgekriegt>. Und irgendwann vergessen sie einfach, die Hand vorzuhalten, und sie können tatsächlich einem solchen Menschen ins Gesicht schauen, wenn sie sagen, dass sie ihn oder zum Beispiel eine solche Ehe gar nicht für voll nehmen können. Und wenn sich ein Jude auch noch erdreistet, einen Beruf zu wählen, in welchem er durch seine Befähigung und seine Tüchtigkeit auch noch zu einigem Ruhm und Wohlstand gelangt, geht die Lästerei von neuem los; niemals gönnt man ihm seine Erfolge, bis hin zu den Paranoikern, die von angeborener Schlauheit der Rasse faseln, welche die Deutschen blende und so weiter und so fort.
Es interessiert die Leute seltsamerweise auch nur noch, ob der Mensch Jude ist oder nicht; keineswegs ist seine Arbeit das Hauptkriterium für ihr Urteil.
Es überrascht Sie vielleicht zu hören, dass die Akademiker meiner Zeit ganz überwiegend Antisemiten sind. Natürlich sind es nicht alle, und es gibt sie, die löblichen Ausnahmen. Aber es gab uns, die wir alle Sinne beisammen hatten, stets zu denken, wie viele Professoren, Lehrer und Gelehrte, also Menschen, welche die Jugend bilden und formen sollten, daran festhielten, es gebe eben Menschen und Juden, und ganz besonders der Gegensatz zwischen Deutschen und Juden sei selbstredend unüberbrückbar. Da gibt es gestandene Ärzte, Chemiker, Juristen, Philosophen, die, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen, herausragende Kapazitäten sind, strikt logisch, nüchtern und rational; fragt man sie nach den Juden, so brechen die merkwürdigsten Vorurteile durch, welche sie dann natürlich auch noch intellektuell begründen, sprich: verkleiden.
Da stand ich einmal mit Friwi und einem Kollegen aus München bei einem Bier zusammen; die beiden kannten sich allenfalls flüchtig, und auch mir war von meinem bayerischen Kollegen nicht viel mehr als der Name geläufig. Wir unterhielten uns eine gute halbe Stunde, und soweit man sehen konnte, bestand beiderseits nicht der Hauch einer Abneigung. Urplötzlich kam nun der Münchner auf die Juden zu sprechen –aus welchem Anlass, ist mir mittlerweile entfallen– und lästerte eine ganze Weile, man solle diese Pest doch möglichst schnell des Landes verweisen. Ich fühlte mich beklemmt, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schließlich habe ich versucht, ihn zu widerlegen, jedoch mein Freund war schneller und sagte schlicht: <Sehen Sie, verehrter Kollege, ich selber bin Jude...> Der andere nun verzog das Gesicht und gab sich Mühe, auf meinen Freund hinunter zu blicken, was ihm aufgrund seiner mangelnden Körpergröße nicht gelang. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, wippte ein bisschen auf und ab und meinte dann in frostigem Ton:
<Jaja, Sie haben wie alle Ihre Rassegenossen diese gefällige eloquente Art, der so viele schon auf den Leim gegangen sind. Aber Sie werden schon sehen, das sich das sehr bald ändern wird, und dann werden Sie uns Deutsche nicht mehr täuschen können.>
Und in drei Sekunden war er verschwunden.”
Christian schwieg eine Weile.
“Müssten nicht gerade Professoren und Studenten anders denken?” fragte er dann.
“Es wäre ihr Auftrag, anders zu denken, natürlich. Wo kämen wir hin, wenn ein Arzt, welcher den hippokratischen Eid geleistet hat, irgendwann angesichts eines Sterbenden sagt: <Nein, keinen Finger rühre ich für diesen Juden!> –Oder ein Rechtsanwalt: <So einen werde ich nicht verteidigen; selbst wenn er unschuldig sein sollte, wovon nicht auszugehen ist: welchen Unterschied macht es? Einer mehr oder weniger, darauf soll es uns nicht mehr ankommen.> Nein, nein! das geht doch nicht an! Ein gebildeter Mensch sollte nicht derart kleinliche Dinge denken oder sagen.
Als Wissenschaftler arbeite ich schließlich im Dienst der ganzen Menschheit, ob sie nun deutsch, französisch oder chinesisch spricht; und wer nun an welchen Himmel glaubt, ist mir als Agnostiker ohnehin schnuppe. Aber ich hätte weiß Gott nicht vermutet, dass sich dieser Pöbel in solcher Kraft und Stärke zur Herrschaft bringen kann; ich bin grundsätzlich Optimist und stets geneigt, an den Sieg der Vernunft zu glauben.”
“Wenigstens hat sich Deutschland dann nach dem verlorenen Krieg schon grundlegend verändert...”
“Wie? Hält der antisemitische Pöbel endlich seinen Mund?”
“Na ja, das nicht, aber ein moderner Rassist konzentriert sich im allgemeinen mehr auf andere Hassobjekte; Hetze gegen Juden ist einfach generell nicht mehr so in.”
“In?”
“Heißt nicht mehr chic. Es ist verpönt, zumindest in der politisch korrekten Öffentlichkeit.“
„Ja, ja, das war vor dreißig Jahren ganz ähnlich,” meinte der Professor dazu und sprach natürlich von der Jahrhundertwende, „manches scheint sich eben nur schwerfällig, zäh