Das große Bumsfallera. A. J. Winkler

Das große Bumsfallera - A. J. Winkler


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wollten? Gab es einen vorbestimmten Zwang, so und nicht anders zu handeln, so und nicht anders alt zu werden, ohne Freiheit, Abenteuer, Leidenschaft? Ihr wurde schlecht bei diesen Gedanken, und ihr Kopf schwirrte. Sie stand auf.

      “Mir is übel,” sagte sie mitten in die ausgebreitete Erzählung ihrer Freundin, “Ick muss raus.”

      Und weg war sie; sie entschwand in den belebten, bald mittäglichen Straßen der großen Stadt.

      Zurück blieb eine alte Dame, mit gemischten Gefühlen von Neid, Bewunderung und ganz tiefer Wehmut. Denn es gibt Lebensgeschichten voller Verirrung, Vergebung, Verrat, voller Liebe und Leidenschaft, Bitterkeit, Romantik und Schmerz; und eine solche hatte sie erlebt und erzählt: ihre eigene, die, und das wurde ihr in diesem Moment erstmals tief und grausam bewusst, vorbei war.

      Sie legte die Hand an die Lippen und fing an, erstmals seit vielen Jahren, hemmungslos zu schluchzen.

      Christian Fink und Professor Wittmann hatten gegessen und Zigarren gekauft, und nun betraten sie ihre, wenn man so will, gemeinsame Wohnung. Auch diese beiden hatten sich viel zu erzählen, aber da sie sich ja noch nicht kannten und einander mit ungetrübtem Blick sehen konnten, ja durften, war ihr Verhältnis unverkrampft –ein neugieriges Sichkennenlernen.

      Von Anfang an sprach viel dafür, dass sich diese beiden unterschiedlichen Charaktere hervorragend verstanden.

      Vor allem der Professor war sehr überrascht, in seinem Alter noch jemanden falsch eingeschätzt zu haben. Wie alle Idealisten hielt er nicht viel von den Menschen, die ihn umgaben, er meinte allzu oft, sie beleidigten seine Intelligenz, und die Welt könnte so viel besser aussehen, wenn...

      Daher bevorzugte er das einsame, zurückgezogene Leben, in welchem er den Dingen nachgehen konnte, für die er sich berufen fühlte –und es wahrscheinlich auch war.

      Doch Christian Fink kam ihm anders vor als ein nur durchschnittlicher Mensch: immerhin, wenn auch aus ihm schleierhaften Gründen, war er der erste gewesen, der ihn ernst nahm, noch bevor er ja die tolle Maschine zu Gesicht bekommen hatte.

      Ein bisschen schien es so, als suchten beide dasselbe: ein Abenteuer, oder vielleicht die Grenzen des Möglichen zu durchbrechen; und ein wenig fühlte sich der Professor an sich selber in jüngeren Jahren erinnert. Dieser Fink besaß die rührende Schüchternheit des noch nicht ganz gefestigten, etwas unsicheren, fast noch jungen Menschen, der die suchende Hoffnung noch nicht ganz verloren hat; wenigstens war das Wittmanns Ansicht. Und so nahm das autoritäre und oft etwas rüde Wesen des Alten in Christians Gegenwart nach und nach mildere und gefühlvollere Züge an, ob väterliche oder freundschaftliche, sind wir uns noch nicht sicher; und umgekehrt stachelte der Wissenschaftler aus der Vergangenheit in Christian fast verloren geglaubte Eigenschaften wie Staunen, Neugier und Risikofreude an.

      “Haben Sie eigentlich mit Ihrem Büro telefoniert?” fragte Wittmann, als sie die Wohnung erreichten und Christian den Schlüssel ins Schloss steckte.

      “Ja, schon, als Sie auf der Toilette waren, ich bin für die jetzt krank. Ich hielt es für besser, eine kleine Notlüge vorzuschieben.”

      “Hm.”

      “Na, ich meine, wenn ich gesagt hätte, ich latsche mit einem Professor durch Berlin, der mit ner Zeitmaschine aus dem Jahr 1930 hierher gegurkt ist –ich weiß nicht, ob einem das jeder abnimmt.”

      “Ja, ja, wir hatten das Thema schon. Sie wollten mir Errungenschaften Ihrer Zeit vorführen.”

      “O ja. Ich hätt’s fast vergessen.”

      Christian präsentierte seinem Gast die Erfindung Fernsehen.

      “Optisches Radio also?” fragte der Professor etwas skeptisch, “ich entsinne mich, dass wir dabei sind, so was Ähnliches zu entwickeln.”

      Der Gastgeber betätigte die Fernbedienung und bemerkte zu seinem Bedauern, dass die meisten Kanäle ausgefallen waren; der Professor hatte mit seiner Maschine ganze Arbeit geleistet. Nur die Berliner Lokalsender funktionierten.

      Wittmann gab sich amüsiert.

      “Toll! Wenn alles in Ihrer Zeit so zuverlässig arbeitet, dann hat sich wirklich nichts verändert!”

      “Hören Sie mal, das ist ja nun wirklich nur Ihre Schuld. Sie kommen aus den Dreißigern, stiften hier Chaos und mokieren sich am Ende darüber, dass nichts klappt. Das ist nicht fair.”

      “Och Gottchen. Nehmen Sie es nicht persönlich, ich habe nur immer einen Mords Spaß, wenn Menschen ganz stolz etwas vorführen, das dann eben nicht funktioniert. Machen Sie sich nichts draus, das ist meine böswillige Ader.”

      Die Sprecherin kündigte eine Ansprache des Regierenden Bürgermeisters an. Auf dem Bildschirm erschien ein dunkelblonder Mann mittleren Alters mit einem etwas dümmlichen, aber offensichtlich wohlmeinenden Lächeln.

      “Die Schlaftablette,” bemerkte Christian. “Wollen Sie das sehen?”

      “Ja bitte, warum denn nicht?”

      Eberhard Diepgen begann seine Ansprache.

      “Liebe Berlinerinnen und Berliner!

       Vergangene Nacht hat eine Reihe seltsamer Ereignisse unsere Stadt erschüttert.

       Alle Telefonleitungen aus der Stadt heraus wurden mit einem Schlag stillgelegt, die Computersysteme sind ausgefallen, und uns alle erreichte keine Post, und von vielen weiteren Skurrilitäten werden Sie sicher schon in der Zeitung gelesen haben. Wir haben noch keine Erklärung für diese Phänomene , wir wissen nur, dass die Stadt derzeit in mehrfacher Hinsicht vom Umland abgeschlossen ist. Die Bewohner des Westteils von Berlin haben sicherlich die Umstände noch in Erinnerung, unter denen sie in den achtundzwanzig Jahren vom Mauerbau bis zur Wende gezwungen waren zu leben. Auch damals waren wir vom natürlichen Hinterland abgeschnitten durch das Unrecht, das der Sozialismus der ganzen Stadt und ganz Deutschland angetan hat.

       Auch damals hat nicht nur die freiheitliche Welt in uneingeschränkter Solidarität diesen Teil der Stadt unterstützt, sondern auch der Überlebenswille der Berlinerinnen und Berliner hat schließlich den Sieg über Despotie, Stacheldraht und Schießbefehl davongetragen; die neben Jerusalem einzige geteilte Stadt der Welt, hat es geschafft, diese Amputation wieder rückgängig zu machen.

       Liebe Berlinerinnen und Berliner, diesmal ist es nur ein Ausfall der Technik, der uns von unseren Familien und Freunden in Brandenburg, aber auch dem Rest der Welt trennt.

       Es sind keine Mauern mit Stacheldraht und Schießbefehl, die wir zu überwinden haben, sondern lediglich ein technischer Defekt. Jede technische Störung hat eine Ursache, und diese Ursache zu finden heißt, die Störung zu beheben, und gut gesucht ist halb gefunden.

       Wir haben hervorragende Spezialisten in unserer Stadt, die sich mit diesen Phänomenen befassen und sehr bald zu einer Lösung dieses Problems vorstoßen werden.

       Bis dahin sind wir leider gezwungen, uns mit diesem Unfall zu arrangieren, der kein Unglück und keine Katastrophe ist. Aber seien Sie versichert, dass wir, der Senat, das Abgeordnetenhaus, die Berliner Polizei, die auch hier und heute wieder hervorragende Arbeit leistet, und alle anderen demokratischen Institutionen dieser Stadt alles unter Kontrolle haben. Dafür stehe ich, Ihr Regierender Bürgermeister. Sie haben mein Wort, dass in kürzestmöglicher Zeit alles wieder seinen gewohnten Gang gehen wird.

       Wir, die Stadt Berlin, Ihre Polizei und alle übrigen öffentlichen Einrichtungen, stehen bei Fragen jederzeit zur Verfügung und nehmen jeden Hinweis gerne entgegen.

       Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.”

      Der Professor schaute seinen Gastgeber mit höhnischem Grinsen an.

      “Na, das ist ja man ne Persönlichkeit.”

      “Ich hab doch gesagt, dass er ne Schlaftablette ist.”

      “Das meinte ich nicht. Ich meine die heiße Luft, die


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