Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
los und bewegte sich auf unsicheren Beinen zu seinem Schwarm.
“Charlotte, ich...” Versuchte, ihr so selbstbewusst wie möglich in die Augen zu schauen, doch mit einemmal siegte wieder die Schüchternheit, und er fühlte sich wie ein zum ersten Mal verliebter Schuljunge.
“Ick sing morgen hier und übermorgen ooch noch mal,” sagte Charlotte, “is schon jut, kannst dir uffe Socken machen. Bin ja nich aus der Welt, Christian.”
Seinen Namen hatte sie fast zärtlich ausgesprochen, und Christian wäre am liebsten auf die Knie gefallen und hätte “Nimm mich!” gebrüllt, aber er bemerkte, dass er ohnehin schon schwankte und wieder irgendwelchen Phantasien nachhing; außerdem wäre das eine etwas peinliche Aktion gewesen, sagte der klägliche Rest Nüchternheit in seinem Hirn. Sie hielt in der Bewegung des Wieder-Umdrehens inne und zog ihre fein geschwungenen Augenbrauen hoch, als erwarte sie, er wolle noch was sagen.
“Dann bis morgen,” krähte etwas in seiner Kehle.
Sie zwinkerte und ging zu ihrem Pianisten, der in diesem Moment aufstand, um sie an der Schulter zu tätscheln. Christian mochte auch den Pianisten, den er von irgendwoher kannte und der, wie er fand, vollkommen schwul aussah.
Dann wandte er sich um und trottete seinen neuen Bekannten hinterher, die mit inzwischen großväterlicher Güte seiner harrten.
Name: Friedrich Wilhelm Markowsky
Wohnort: Berlin-Zehlendorf
geboren: 3. Februar 1871 im südlichen Litauen
Größe: 1,77m
Gewicht: ca. 72kg, Tendenz eher fallend
Augenfarbe: graublau
Haarfarbe: aschblond, bald hellgrau
Beruf: Physiker
Lieblingsautor: G. E. Lessing, Schiller, Goethe
Lieblingsmusiker: Mozart, aber manchmal auch Wagner
Lieblingskunststil: griechische Antike
Lebensstationen: Litauen, Königsberg, Breslau: Studium Medizin & Physik,
Universitäre Laufbahn in Breslau und Berlin
Lebenseinstellung: fatalistisch, arbeitsam, oft melancholisch, “schwarzer Humor”
größte Abneigung: betrunkene junge Männer mit “nationaler” Gesinnung
Bär, Hinkender, Fistelstimme
Hermann Paschke hatte, wie man heute sagen würde, seine Informanten. Als lokale Größe der Nazibewegung in Frankfurt/Oder waren ihm ein rundes Dutzend, vielleicht auch mehr, Gefolgsleute treu ergeben. Zu Gleichgesinnten außerordentlich jovial und umgänglich, genoss er den zweifelhaften Ruf eines “guten Führers”. Er duzte immer und ließ sich auch immer duzen –selbstverständlich nur von Kameraden; der klassisch arrogante preußische Offizierston kam in seinen Befehlen nicht vor, die er als „Aufforderungen“ verstanden wissen wollte. Dass seine Gefolgschaft für ihn durchs Feuer gehen würde, stand außer Frage; vom Willen beseelt, als “gute Männer” zu gelten, praktizierte sie stets eine Art vorauseilenden Gehorsams, so dass Paschke schon eine feste Größe darstellte, als die NSDAP noch keinen Fuß in den Stadtrat gesetzt hatte.
Seine Spione waren agile, wenn auch nicht allzu helle Burschen, die auch schon mal auf eigene Faust durchs Land fuhren, um Wissenswertes und Gerüchte aufzusammeln, die ihrem Führerchen vielleicht nützen würden. An diesem 2. September waren einige dieser Gefolgsleute Richtung Berlin unterwegs gewesen; und genau diese standen vor ihm, als Paschke auf das stürmische Klopfen in der Nacht die Tür öffnete. Es waren drei an der Zahl, und ihre Namen sollen uns nicht weiter interessieren. Sie grüßten mit erhobener Hand.
“Was gibt’s,” fragte Paschke mit unterdrücktem Gähnen; er war bereits fast eingeschlafen gewesen.
“Unglaubliche Neuigkeiten,” antwortete der Kleinste von ihnen mit einer dünnen Fistelstimme, “in Berlin ist etwas passiert.”
Paschke nickte ohne besonderes Interesse, gähnte abermals und lud die drei anschließend zu einem Schnäpschen in die gute Stube. Ein Gaslicht wurde entzündet, und die vier Gestalten hockten sich um einen etwa quadratischen Tisch der Sorte “Eiche mundgebissen”.
Einige deutsche Geweihe schmückten düster und todesbedrohlich die ansonsten weitgehend kahlen deutschen Wände des kleinen viereckigen deutschen Zimmers. Dem Erzähler bot sich ein lustiger Anblick, als er hinter jedem der ernsten deutschen Männer ein solches Geweih erspähen durfte.
“Berlin hat sich verändert,” berichtete einer der Untertanen, welcher ein Bein nachzog und den typischen Eindruck eines Kriegsversehrten machte, mit leichtem östlichen Akzent,
“wir haben zunächst das Gerücht in einem kleinen Dorf aufgeschnappt und sind dann hingefahren, ungläubig. Kamerad, es sah aus wie ausgewechselt, als sei die Reichshauptstadt völlig neu erbaut worden.”
“Völlig neu,” ergänzte ein anderer, der einen Bärenkörper und eine dunkle, langsame Stimme besaß.
“Wir hatten nicht allzu viel Zeit,” schnarrte der Kleine mit der Fistelstimme nun wieder, “nicht genug, um uns die ganze Stadt anzugucken, aber es ist ein Rätsel, irgendwas stimmt da nicht, die Stadt ist wie ausgetauscht.”
Paschke nickte bedächtig und fragte nach den Eindrücken seiner Vasallen: was sich ereignet haben könnte. Sie konnten der Frage nur mühsam folgen.
“Wie meinst du das?” fragte der Bär.
Paschke, der wusste, dass Logik und Kombination nicht zu den Talenten dieser Truppe gehörten, wiederholte die Fragen in gemütlichem Ton.
“Das wissen wir nicht,” japste die Fistelstimme, “das wissen wir nicht! Wir wollten dir nur die Nachricht überbringen, Kamerad! Vielleicht solltest du diese Meldung sogar” –und hier senkte sich ohne sein Zutun die unangenehme Stimme– “dem Führer persönlich überbringen.”
Die andern beiden schwiegen respektvoll. Paschke hingegen leerte sein Glas und schenkte den andern und sich selbst nach. Er musste erst genau wissen, was los ist, dachte er laut. Die drei begannen sich für ihre Dummheit zu schämen. Paschke, der dies bemerkte, hakte jedoch sofort nach und lobte sie für ihre Entdeckung, sie hätten ihre Sache sehr gut gemacht, man würde die Angelegenheit prüfen und dann danach anschließend vielleicht den Führer fernsprechen.
Die andern atmeten tief und stolz. Für heute war es erst einmal genug, fand er, und er beauftragte sie, ruhig schlafen zu gehen und morgen Mittag wiederzukommen. –”Heil Hitler!” – ”Heil!” –
Die drei marschierten ab; Paschke verschloss die Tür, leerte mit Vergnügen alle vier Gläser, legte sich befriedigt ins Bett und schlief im Handumdrehen ein.
Dass diese Gruppe überhaupt funktionierte, hatte, lieber Leser, natürlich mehrere Gründe.
Zur Paschke-Truppe zu gehören, bedeutete, Teil einer Art Symbiose zu sein, die angeblich das Ideal der deutschen Volksgemeinschaft darstellen sollte. Paschke hatten ihnen das echte Nazi - Gedankengut nähergebracht, war er doch der einzige von ihnen, der ab und zu mal ein Buch zur Hand nahm und gegebenenfalls sogar darin las.
Selbst den Linken in der kleinen Stadt hatte der schlaue Handwerker einige Streiter abspenstig gemacht. In dieser Truppe standen zwei Mechanikern und mehreren Handwerkern aus diversen Berufen einige Bauern gegenüber; man versorgte sich gegenseitig in allen möglichen Not- und anderen Fällen mit Kartoffeln, Brot, Möbeln und anderen unentbehrlichen Gegenständen.
Paschke betonte stets: “So wird einmal das gesamte deutsche Volk leben!” und erwies sich somit als echter ungetrübter Idealist! Die Geldwirtschaft war innerhalb des kleinen Zirkels abgeschafft; jeder begriff sich als Teil des ganzen und nichts als das; geriet jemand in Not, so wurde beisammen gestanden, geholfen, gesammelt; es wurden zinslose Kredite gewährt, die auf Paschkes Order sogar ab und zu nur zur Hälfte zurückgezahlt werden mussten,