Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
gemächlichen, welcher Christian, der an schnelleres Laufen gewöhnt war, etwas irritierte.
“Übrigens –würde ich Ihre Maschine allmählich gerne mal sehen. Wo ist sie eigentlich?”
“Sie steht im Haus meines Freundes und Kollegen Markowsky, von dem ich Ihnen schon berichtet habe. Er ist zu einem Kongress an die Ostsee gefahren. Zu meiner Zeit natürlich.”
“Du liebe Güte, aber das Haus wird doch jetzt auch irgend jemandem gehören?”
“Ha, da hatte ich wirklich Glück.”
Wittmanns Laune stieg spürbar wieder, als er erzählen konnte, wie er dem Schicksal, entdeckt zu werden, entglitten war: “Wie es der Zufall so will, sind die jetzigen Bewohner des Hauses, welches sich übrigens in angemessener Nachbarschaft zu Ihrem Domizil befindet, ebenfalls verreist. Ich entnahm es einem Kalender, welcher an der Dielenwand angebracht ist. Bis zum 11. September rot angestrichen mit einem dicken Kommentar <Florida>. Wir haben also neun Tage Zeit füreinander, wenn ich es einmal so formulieren darf. Es hingen außerdem Schlüssel herum, ich habe probiert, welcher wofür passt, und selbstredend den Hausschlüssel mit mir genommen.”
“Wieso haben Sie nicht dort übernachtet, wenn der Zugang frei und die Bewohner im Urlaub sind?”
“Oh, Sie sind mir noch böse, wie? Nun, ich wollte in meine Wohnung –jetzt Ihre– ich bin da ein wenig sentimental, das muss ich zugeben. Natürlich wollte ich sehen, ob das Haus noch steht; hätte man es abgerissen, hätte ich natürlich mit der Wohnstatt meines Freundes vorlieb nehmen müssen.”
“Na gut. Ich will ja nicht so sein. Ich will aber heute noch Ihre tolle Maschine sehen, okay?”
“Okay? Was heißt das?”
“Das hab ich mir auch erst in den letzten paar Jahren...”
“O mein Gott!” unterbrach ihn laut der Professor. “Was ist denn hier passiert?”
–Man erinnere sich: Der Potsdamer Platz war anno 94 eine Großbaustelle; Kräne, Bauschutt, breite Löcher im Boden und Dixiklos stellten eine vom Menschen geschaffene, wirklich überaus hässliche neue Landschaft dar, die in ihrer abnormen Unwürdigkeit das heutige Resultat doch um einiges übertraf. Der Ehrgeiz, dem ehemaligen Lebenszentrum Berlins wieder modernen Chic und eine gewisse hauptstädtisch - repräsentative Eleganz zu verleihen, hatte beängstigende Ausmaße angenommen, welche viele Menschen mit “Restauration” assoziierten. Der Potsdamer Platz war ja ein, wenn nicht das architektonische Opfer der Teilung geworden, lag er doch an der Grenze der Bezirke Mitte und Tiergarten, mitten im Niemandsland zwischen Hauptstadt der DDR und Stadtinsel West-Berlin; von beiden Hälften mehr oder minder als “ehemaliger Platz” und Teil der Vergangenheit betrachtet, verkam er zu der Wüste, als die er nach dem Mauerfall deutlicher denn je erschien. Die Erwähnung des Wortes allein genügte jedoch, um bei den plötzlich historisch sehr interessierten Politikern alle möglichen Erinnerungen wieder wachzurufen –ein wiedervereinigtes Berlin, noch dazu als Bundeshauptstadt, musste natürlich schon aus repräsentativen Zwecken an die glorreichen Zeiten vor 45 –Pardon, vor 33, Entschuldigung, vor 18, nein, 14, Herrgott, 1871!– anknüpfen, und aus der Leiche Potsdamer Platz sollte doch wieder etwas werden!
Denn so, wie man im Verlangen nach bedeutungsschwangeren Bauwerken das Brandenburger Tor besonders gerne als Symbol der Teilung benutzte, war der Potsdamer Platz auf einmal mit Weltläufigkeit, Modernität und Urbanität in Verbindung gebracht worden, was rückblickend einen zuckersüßen Beigeschmack bekommt, schaut man sich das peinliche Ergebnis der Mühen einmal an, welches wir alle bedauern.
Den alten Wissenschaftler, von der Geschichte der letzten 64 Jahre ohnehin ziemlich mitgenommen, konnte erst einmal nichts mehr schrecken; er war nur völlig überrascht, da er natürlich nicht mit einer Mondlandschaft, sondern mit einem quirligen Piccadilly Circus gerechnet hatte. Er nahm die monströse Schuttwüste nach einigen Sekunden verdutzten Nicht-Wieder-Erkennens schließlich recht gelassen zur Kenntnis und schüttelte seinen breiten Schädel.
“Diese Stadt hat immer noch die Neigung, sich zu schnell und zu hastig verändern zu wollen. Das ist mir besonders aufgefallen, als ich den Vergleich zu London ziehen konnte, welches ja einem ähnlichen Prozess unterworfen war; London wuchs in einem noch rascheren Tempo, behielt seine Eigenarten aber stets bei und verwarf nicht seine gute alte Identität; Berlin hingegen musste immer in jeder Generation anders erscheinen, zu meiner Geburt provinziell und protestantisch; dreißig Jahre darauf eine echte Großstadt mit Elendsquartieren, Hinterhöfen und Tschingderassabumm, Sie verstehen, was ich meine. Und in meiner Zeit schließlich wild, grob und schnelllebig, viel Paris in den Straßen, New York in den Herzen und Moskau in den Köpfen.”
“Tja, vor ein paar Jahren gab’s hier ja noch die Mauer, und der Osten war eine Mischung aus altem Berliner Charme und Vorhof von Peking. Inzwischen wächst das ja ganz, ganz langsam wieder zusammen, aber geistig gesehen sind es immer noch zwei halbe Städte, und im Herzen zwei ganze.”
“Das war ein nettes Bonmot,“ grunzte der Professor. „Schade, dass meine Zeit mit diesem Spruch so wenig wird anfangen können. –Nun zu einem schwierigeren Punkt, den wir wie alles ebenfalls am besten im Gehen erörtern sollten. Wir müssen in kurzer Zeit, also nach unwissenschaftlicher Methode, die Frage beantworten, ob eine neue Errungenschaft, eine Technologie, die ganz offensichtlich ihrer Zeit so weit voraus ist, überhaupt zum Heile der Menschheit eingesetzt werden kann.”
“Ja, ich weiß, was Sie meinen. Es ist ein bisschen so, als hätten die Sumerer die Atombombe besessen.”
“Hä?” fuhr es Wittmann heraus, der normalerweise gepflegtere Rückfragen bevorzugte.
“Ach ja, das habe ich ja ganz vergessen. Der Zweite Weltkrieg wurde mit dem Abwurf zweier Atombomben beendet.”
“Hier in Berlin?”
“Nein, Deutschland hatte Glück, dass seine Kriegsführung zu schlecht war und schon vorher kapituliert hatte. Die USA haben die beiden Bomben über Japan abgeworfen; einige hunderttausend Tote und unheilbar Verstrahlte nur durch zwei Bomben; ein bodenloses Kriegsverbrechen.”
“Ach du mein Gott, ja, das hört sich so an. Aber da möchte ich doch hinzufügen, dass schon der Krieg selber im Grund ein Kriegsverbrechen ist! –Wohlan, man stelle sich vor, die Römer etwa hätten das Pulver besessen! Sie hätten den gesamten Erdball überrannt, womit die römische Kultur, die wir heute gerne in höchsten Tönen preisen, hundert Jahre später eine zerfallende Ruine gewesen wäre; ein allzu mächtiges, korruptes, gewaltsüchtiges und dekadentes Weltreich, in welchem man sich am besten jeden Tag besaufen wollte. Alle großen Erfindungen waren Teil eines evolutionären Prozesses; vielleicht ist meine zu früh, zu weit meiner Zeit voraus, und ich bin nur ein alternder, ehrgeiziger Wissenschaftler, der allein und weltvergessen an einem Ding bastelt, an das außer ihm niemand glaubt. Das macht diese neuartige Maschine zwar großartiger und überraschender, aber vielleicht auch eine Idee gefährlicher. Wir haben nicht sehr viel Zeit; es muss uns eine Idee kommen, wie wir weiter vorangehen. Ich will die Maschine retten; sie ist mein Kind. –Aber nicht um jeden Preis.”
“Noch ist ja nicht aller Tage Abend. Vielleicht kehren Sie in zehn Tagen vollkommen unbehelligt in Ihre Zeit zurück und... wer weiß, was Sie dann empfinden?”
“Dann müsste ich mein Werk zerstören,” meinte der Professor, der immer nachdenklicher wurde, im Unterschied zu Christian, der sich recht behaglich fühlte und erwiderte: “Ich meine, dass unter künstlich erhöhtem Druck keine guten Entscheidungen getroffen werden. Manchmal lehnt man sich besser mit einem guten Glas Rotwein zurück...”
“Ich lehne mich nie zurück,” erwiderte Wittmann barsch.
“Du liebe Güte, Sie werden doch ab und an auch mal schlafen, oder?”
“Ja, sicher. Trotzdem möchte ich klarstellen, dass die Zeit uns davonrasen könnte. Wir wissen es nicht. Wer sich nur auf Glück oder Pech verlässt, weist seine höchsten Gaben von sich. Wir Menschen machen unser Schicksal, alles andere sind Zufälle, die in reinster Beliebigkeit aufeinander folgen können. Daher mag ich das Wort zurücklehnen