Schatten und Licht. Gerhard Kunit

Schatten und Licht - Gerhard Kunit


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die seit achthundert Jahren überliefert ist. Anlass – und zugleich der Preis, den es immer wieder aufs Neue zu erringen gilt – ist der Kelch der Aldare. Magistra Aldare Steinhauer war eine hochbegabte Alchimistin. Als ihr Ende nahte, wollte sie ihr Wissen über die Herstellung segensreicher Tränke in einem einzigartigen Artefakt bewahren. Die Bindung solch komplexer Magie in einem Gegenstand ist wahrlich herausfordernd. Vor allem die anhaltende Wirkung mehrerer, ineinander verschränkter Zauber ist Spezialisten vorbehalten, und so wandte sich Aldare an Rastuch, einen Artefaktenmagier von außergewöhnlichem Ruf. Er sollte sie bei der Verwirklichung ihres göttergefälligen Vorhabens unterstützen, aber nachdem das Werk vollendet war, erkannte Aldare, dass sie betrogen worden war. Rastuch erwies sich als Angehöriger der Schwarzen Gilde und erhob Anspruch auf das Artefakt. In Büchern von zweifelhaftem Inhalt und noch zweifelhafterer Herkunft wird es daher auch als Kelch des Rastuch bezeichnet.“

      Magister Geron schöpfte Atem. „Aldare bezwang ihren Gegner in einem ehrlichen Zweikampf. Der hinterhältige Schwarzmagier hatte jedoch eine gemeine Falle ausgelegt, der die aufrechte Alchimistin nichts entgegensetzen konnte. So fand sie, obzwar siegreich, den Tod. In der Folge wäre beinahe ein Gildenkrieg ausgebrochen. Letztlich waren es die Grauen, die mit dem magischen Duell einen anerkannten Modus für die Weitergabe des Kelches schufen.“

      Eigentlich wäre der Unterricht schon zu Ende gewesen, aber Keiner dachte daran zu unterbrechen. Fasziniert beobachtete Semira die Veränderung in Gerons Auftreten. Seine Gestalt hatte sich gestrafft und in seinen Augen leuchtete ein begeistertes Funkeln, das ihr noch nie zuvor aufgefallen war.

      „Das Duell wird von der grauen Gilde ausgerichtet und überwacht und findet in Abständen von sieben, neun, elf oder dreizehn Jahren statt. Der Rhythmus folgt einer komplexen Berechnung aus Mondlauf und Sternkonstellationen. Ausgetragen wird der Kampf in der Arena von Kral, zwei Tagesreisen westlich von Rusin, inmitten der Fenn-Berge. Das Halbrund fasst tausend Zuseher, unter denen sich die bedeutendsten Vertreter der magischen Zunft finden. Kraftvolle Schutzschirme verhindern eine Beeinflussung von außen und wohl auch, dass die fortwährenden Provokationen der Schwarzen unter den rivalisierenden Zusehern ein Blutbad auslösen.

      Die Repräsentanten der Weißen und der Schwarzen kämpfen meist bis zum Tod, und der Sieger gewinnt das Recht Aldares Kelch zu nutzen – im Namen seiner Gilde und zu seinem Ruhm. Sein Name wird in die Gedenktafel der Arena gemeißelt. Siegreiche Weißmagier werden überdies für die Ehrengalerie in Hesgard portraitiert.“

      Die Schüler schwiegen. Anja wollte den Magister noch zu einer detaillierten Schilderung des Kampfes überreden, doch Geron winkte ab: „Zeit zum Essen, sonst bekommt ihr nichts mehr.“

       * * *

      Das Nachtmahl war einfach und, wie so oft, zu spärlich, um den Hunger der Heranwachsenden vollständig zu stillen. Gelangweilt hörte Semira den wilden, aber haltlosen Spekulationen über Magister Enartions Sieg zu. Ihre eigenen Gedanken drehten sich um einen anderen, faszinierenderen Begriff: Zeit.

      Ralland hieß die Stadt, in der die Grauen ihre Forschungen betrieben hatten. Sie prägte sich den Namen ein, während ihr scharfer Verstand bereits Kombinationen bekannter Zauber mit zeitbeeinflussenden Komponenten analysierte. Sie verstand nicht, warum man an die Magie so einfallslos heranging. Wiederholt hatte sie den einen oder anderen Lehrer auf neue Verknüpfungen bekannter Sprüche angesprochen, doch ihre Ansätze wurden ignoriert, oder mündeten, wie bei Magister Geron, in langwierigen Vorträgen über Methoden und die Position der Weißen Gilde als Wächter kontrollierter Magieausübung.

      Semiras Gedanken wanderten zu ihrem Versteck am Dachboden. Dort lagen drei Bücher, die sie vor einem knappen Jahr aus der Bibliothek entwendet hatte. Der Leichtsinn eines Gehilfen war ihr dabei zu Gute gekommen, und so wurden die als bedenklich klassifizierten Bände nicht vermisst, weil sie als vernichtet galten.

      Seitdem verbrachte sie viele Nächte mit dem Studium dieser Werke und gewann Einsichten in das Wesen der Magie, die ihr im Unterricht vorenthalten wurden. Ihre Erkenntnisse verdankte sie einer einzigartigen Kombination aus Intuition, logischem Denken und unstillbarer Neugier. Dass andere Magier bei ihren komplexen Überlegungen rasch an ihre Grenzen stießen, kam ihr nicht einmal in den Sinn.

      Vorsichtig horchte Semira auf die Atemzüge der Zimmergenossinnen, bevor sie aus dem Raum schlich. Rasch war sie an der Treppe und huschte in das oberste Stockwerk, wo eine Leiter auf den Dachboden führte. Sie atmete erleichtert auf, als sie die Luke hinter sich schloss.

      Mal sehen, ob ich im ‚Kompendium der magischen Schulen‘ einen Hinweis auf Ralland finde, dachte sie, während sie zu ihrem Versteck eilte. Sie bog um die letzte Ecke und erstarrte. Unmittelbar vor ihrer geheimen Kammer kauerten zwei Gestalten und sahen ihr im Schein eines schwachen Zauberlichtes entgeistert entgegen.

      Kein Lehrer, schoss es Semira durch den Kopf. Aber was machen die hier? Sie unterdrückte den Reflex zur Flucht.

      Jetzt erst kam Bewegung in die Beiden. Einer zog sich die Kapuze seines Umhangs über den Kopf, während die Andere versuchte, ein Buch zu verbergen, in dem sie gerade gelesen hatten. „Was machst du hier? Verzieh dich!“, blaffte der mit der Kapuze. Semira erkannte Bertan, doch Ardana, die Novizin, reagierte besonnener. „Nein, warte!“

      Semira zögerte und Bertan schaute verdutzt. „Sie ist ein intelligentes Mädchen und mindestens so neugierig wie wir“, fuhr Ardana fort. „Vielleicht kann sie uns weiterhelfen.“

      Semira mochte Ardana nicht sonderlich, war andererseits aber fasziniert von dem überlegenen, arroganten Auftreten, das sie gegenüber ihren Mitschülern an den Tag legte. Überdies musste sie herausfinden, was die Beiden hier, vor ihrem Unterschlupf, trieben. „Wobei helfen?“, erkundigte sie sich.

      „Kein Wort darüber, zu niemandem“, zischte Ardana.

      Als Semira nickte, zog die Novizin das Buch unter ihrem Umhang hervor und schlug es auf. Keins von meinen, dachte Semira erleichtert, als sie einen Blick auf den Einband erhaschte.

      „Wir hängen da mit einem Zauber und kommen nicht weiter“, flüsterte Ardana, während sie nach der richtigen Seite suchte. Semira beugte sich zu ihr, doch Bertan schien sich unwohl zu fühlen und trat von einem Fuß auf den anderen.

      „Es geht darum, den Willen eines anderen zu beeinflussen, aber da steht ‚ohne zwingende Wirkung‘. Wie soll das gehen?“ Ardana strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah Semira forschend an. Die überflog die kunstvoll geschriebene Doppelseite und fand rasch einen Hinweis.

      „Der Beeinflusste glaubt, es sei seine eigene Idee und handelt entsprechend. Hier wird das näher erläutert. Einerseits ist er sich dadurch der Wirkung des fremden Willens nicht bewusst, selbst nach dem Abklingen des Zaubers. Andererseits kann ein äußerer Einfluss den Bezauberten von ‚seiner‘ Idee auch wieder abbringen. Daher die Einordnung als ‚nicht zwingend‘. Klar?“

      Ardana nickte zögernd. Sie versuchte den Ausführungen der Jüngeren zu folgen, aber Bertan war gar nicht mehr bei der Sache. Immer wieder sah er sich nervös um. „Habt ihr auch was gehört?“, flüsterte er aufgeregt, aber die Mädchen waren schon wieder in das Buch vertieft.

      Semira war in ihrem Element. Gierig sog sie die Ausführungen zu dem subtilen Beeinflussungszauber auf, fasziniert von den Möglichkeiten, die sich daraus eröffneten. Auch Ardana fand sich langsam in die ungewohnte Natur des Zaubers ein, obwohl sie immer wieder Semiras Hilfe beanspruchte. Erst das plötzliche Aufflammen eines Zauberstabes riss sie aus Ihrer Lektüre.

      „So, so“, hörten sie Magister Likandros‘ Stimme. „Wen haben wir denn da? Solltet ihr nicht in euren Betten sein?“ Der Lehrmeister musterte ihre Gesichter. Als Ardana aufsprang, polterte das Buch zu Boden. Semira vermied es, dem Blick des Magisters zu begegnen. Bertan stand wie angewurzelt und verlor die Farbe aus dem Gesicht.

      „Ab in die Betten, bevor euch noch jemand sieht“, befahl Magister Likandros, ehe er einen Blick auf das Buch warf. „Moment noch“, seufzte er. „Tut mir leid, aber das muss ich melden.“

       * * *

       Magistra Elida


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