Schatten und Licht. Gerhard Kunit
Elida Varna Sternseherin durchlief den imaginären Kreis in ihrem Arbeitszimmer nun schon einige Dutzend Mal. „Die ‚Variationen der Herrschaft‘ sind keine Bagatelle. Wo in Bragas Namen haben die Kinder dieses Machwerk her?“
Erwartungsvoll sah sie Likandros an. Der zuckte lustlos mit den Achseln, entschloss sich aber doch zu einer Antwort: „Diese Ardana ist ein arrogantes Balg. Ihre Eltern sind reich. Sie ist nicht dumm, aber ich bezweifle, dass ihr Intellekt den Anforderungen des Buches gewachsen ist. Semira würde ich die Sache am ehesten zutrauen. Sie ist wissbegierig und intelligent, aber daraus lässt sich noch keine Schuld ableiten. Bertan war noch nie der Hellste. Er ist bestenfalls ein Mitläufer.“
Die Rektorin ging ihre Möglichkeiten durch. In diesem Fall musste sie Härte zeigen, obwohl ihr das widerstrebte. Geron, der in ihrem Umgang mit den Zöglingen stets ein Zeichen von Schwäche sah, saß ihr im Nacken, und bei einem Teil des Lehrkörpers fiel seine Kritik auf fruchtbaren Boden. Darüber hinaus hatte sie eine Freundin in Hesgard von einem Schreiben in Kenntnis gesetzt, das der missgünstige Lehrer an den obersten Rat der Weißen Gilde verfasst hatte.
Varna hatte die Stelle als Schulleiterin mit großen Plänen und Hoffnungen angetreten, doch ihre Vorstellungen von einem vertrauensvollen Miteinander erwiesen sich als schwerer umsetzbar als gedacht und wurden von einigen Lehrkräften schlichtweg ignoriert. Anstelle der Forschungsprojekte, die sie mit interessierten Professoren und begabten Novizen in Angriff nehmen wollte, schlug sie sich durch Niederungen der Verwaltung und fruchtlose Diskussionen mit der Kollegenschaft. Hinzu kam die angespannte Lage der Schule. Sie war auf Spenden von Gönnern und Absolventen angewiesen, und Ardanas Eltern waren da besonders großzügig, was den aktuellen Vorfall noch heikler machte. Likandros zählte zu ihren engeren Vertrauten, aber der Gedanke, jemanden auf Grund finanzieller Erwägungen zu schonen, brächte ihn in Rage. Noch vor wenigen Jahren hätte sie genauso reagiert.
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Varna machte alles richtig. Ihre Entscheidung, Geron als Leiter des Disziplinargerichts einzusetzen und selbst nur als Beisitzerin zu fungieren, bereitete allen Gerüchten über ein zu weiches Vorgehen ein Ende und brachte ihr selbst bei ihren Kritikern Sympathien ein. Geron führte die Verhandlungen gegen die beiden Novizen und die Schülerin nacheinander. Er wollte Semira als Drahtzieherin zur Rechenschaft ziehen. Fasziniert verfolgte die Schulleiterin, wie sich die Schülerin seinen Fallen und Fangfragen lange Zeit entzog, ehe sie seiner Hartnäckigkeit unterlag.
Bertan präsentierte sich hingegen als williges Opfer. Ritterlich – oder dumm – stellte er sich vor die Mädchen. Es war leicht, ihn zu verurteilen.
Geron hatte Varnas Hinweis bezüglich Ardanas Eltern verstanden und ging bereitwillig auf die Ausflüchte der Novizin ein. So spielte sie ihre Rolle bei dem Vorfall herunter, obwohl ihre Aussage etliche Ungereimtheiten enthielt. Die Herkunft des Buches blieb auf Grund der einseitigen Verhandlungsführung unklar, aber das konnte man bestenfalls Geron zur Last legen. Gemäß dem Protokoll des Bibliothekars gehörte das schwarzmagische Werk nicht zu den Beständen der Akademie, und der schwerwiegende Anklagepunkt des Diebstahls wurde fallen gelassen. Auch hier ging Varnas Rechnung auf. Geron verhängte jeweils zehn Stockschlägen mit öffentlicher Vollstreckung über Semira und Bertan. Das gehörte zwar zu jenen drakonischen Strafen, die sie verabscheute, aber angesichts der verfahrenen Ausgangssituation war das akzeptabel.
Das Ergebnis stellte die meisten Kollegen zufrieden und Elida Varna Sternsingers Ansehen stieg sichtlich. Als sie den Beratungssaal erhobenen Hauptes verließ, fiel ihr Blick auf die Inschrift über der breiten, zweiflügeligen Türe. „Wahrheit und Gerechtigkeit“ stand da in kunstvollen goldenen Lettern auf dem Bogen des Marmorportals. Obwohl sie sich sicher war, dass sie alles richtig gemacht hatte, fühlte es sich nicht so an.
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Varna mochte die frühe Morgenstunde, aber dieser anbrechende Tag hatte einen fahlen Beigeschmack. Die Kollegenschaft war ebenso vollständig angetreten wie die Novizen und Schüler. Selbst die Bediensteten hatten sich eingefunden, um der Vollstreckung beizuwohnen. Mit entblößten Rücken lagen Bertan und Semira, bäuchlings auf dicke Balken gebunden, im Zentrum des Vierecks und harrten ihrer Bestrafung. Die Rektorin wandte sich dem Verwalter zu. Ferdon war ein kräftiger, untersetzter Mann, aber er würde nicht stärker als notwendig zuschlagen. Dennoch waren zehn Stockhiebe eine schmerzhafte und brutale Angelegenheit. Die Magistra gab schweren Herzens das Zeichen, obwohl sie sich sorgte, wie die Beiden die Strafe überstehen würden.
Der Novize gab sich sichtlich Mühe den Schlägen zu trotzen, aber nach dem vierten Streich war sein Widerstand gebrochen und seine Schreie schnitten schrill durch die kühle Morgenluft. Fröstelnd zog die Rektorin ihren Umhang enger. Sie riss ihren Blick von dem Unglücklichen los und ließ ihn über die Schüler und Novizen schweifen. Zumindest die Abschreckung funktioniert, dachte sie, als sie in die blassen, erstarrten Gesichter sah.
Die Schreie verstummten, und Stille legte sich über den Hof. Likandros brachte Bertan in die Krankenstation. Niemand wollte bleibende Narben und sie hatte entsprechende Vorkehrungen getroffen. Varna schaute zu Semira. Sie hätte Anzeichen von Angst erwartet, doch das Gesicht der Schülerin wirkte starr, ausdruckslos, ja fast trotzig.
Wieder musste sie das Zeichen geben, obwohl sie die Bestrafung am liebsten abgebrochen hätte. Geron hingegen verfolgte das Geschehen mit einer abstoßenden Aufmerksamkeit. Irgendwann würde sie sich seiner Ablehnung stellen müssen. Das Klatschen der Hiebe zog ihren Blick wieder auf Semira. Mit abgewandtem Antlitz ertrug sie die Schläge ohne einen Laut. Varna hoffte, sie wäre ohnmächtig.
Als der Verwalter den Stock beiseite legte, hielt es sie nicht länger an ihrem Platz. Sie eilte zu dem Mädchen, beugte sich hinunter und sah in ein tränenüberströmtes Gesicht. Dann schlug die Schülerin die Augen auf, und eine Welle blanken Zornes schlug der Schulleiterin entgegen. „Wo … ist … Ardana?“, presste Semira hervor, ehe sie die Besinnung verlor.
* * *
Nachdenklich nippte Varna an dem kochend heißen Tee. Ihr gegenüber saß Rowina Schmied, ihre jüngste Professorin. In den vergangenen drei Jahren war sie ihr, ungeachtet des Altersunterschiedes, eine gute Freundin geworden.
„Ich möchte, dass die Kleine meine Vorgangsweise versteht. Du hast einen guten Zugang zu ihr. Kannst Du ihr begreiflich machen, warum ich Ardana aus der Sache heraushalten musste?“
Die Jüngere schwieg, bis die Rektorin fortfuhr: „Das Mädchen ist wahrscheinlich die Begabteste von allen. Ich will sie nicht verlieren.“
„Ich versuche es“, ging Rowina endlich auf ihr Anliegen ein. „Aber sie ist keine ‚Kleine‘ mehr, das solltest Du keinesfalls vergessen.“
„Danke. Finde heraus, ob sie verstanden hat, was passiert ist. Ob ihr bewusst ist, dass sie die Strafe verdient hat. Ich bin auf ihrer Seite, soweit das meine Stellung zulässt.“
Rowina verließ das Büro und die Schulleiterin blieb mit ihren Gedanken zurück. Ihr Verstand beharrte darauf, dass alles in Ordnung war, aber das Gefühl versagt zu haben, wollte nicht weichen. Der Tee wurde kalt und schal, ehe sie sich den Papieren und Pergamenten auf dem großen Schreibtisch zuwandte.
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Rowina meldete sich noch am selben Abend und Varna empfing sie sofort. „Erzähl“, drängte sie ungeduldig. „Hat sie es verstanden?“
Die junge Kollegin sah zu Boden. „Ich fürchte, sie hat mehr verstanden, als uns lieb sein kann.“
„Wie meinst Du das?“ Die Resignation in Rowinas Stimme alarmierte die Rektorin.
Magistra Schmied zögerte, ehe sie antwortete. „Sie wollte nur wissen, wie sie schnell zu Macht und Geld kommt.“
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Reuben, Söldner, Abenteurer, Herumtreiber und Charmeur
Die Nachmittagssonne fiel auf die Terrasse des Kupferkrugs. Reuben streckte die Beine von sich und gähnte herzhaft. Sein Rüschenhemd stand offen, damit die wärmenden Strahlen seine Brust erreichten.