Schatten und Licht. Gerhard Kunit
weiter.“
Obwohl Rhodenas Krönung und ihre Abschlussprüfung keine drei Monde zurücklagen, schienen die Erinnerungen daran in ein anderes, früheres Leben zu gehören. Die abgekämpften Reiter, deren müde Tiere sich widerwillig über den Anstieg quälten, verdeutlichten Sylva, dass die Jahre des Friedens vorbei waren. Als die Reihe der berittenen Schützen vorübergezogen war, trieben die Beiden ihre Pferde an um aufzuschließen.
Sylva sollte erste Kampferfahrungen machen und hatte sich gefreut, als sie dem Kommando ihres Freundes zugeteilt worden war, aber der Einsatz entwickelte sich zu einem Desaster. Militärisch betrachtet war ihr Trupp von etwa dreißig Kundschaftern unbedeutend und ihr Auftrag, feindliche Bewegungen südöstlich der Stadt Chur aufzuklären, hatte schon lange seine Bedeutung verloren.
Eine mehrfache Übermacht drängte sie nach Süden ab und die Reiter aus Sirnan verfolgten sie jetzt seit sechs Tagen. Obwohl Torins Leute jeden Trick anwandten, der ihnen in den Sinn kam, ließ sich der hartnäckige Gegner nicht abschütteln. Wie es aussah, mussten sie noch tiefer in das unwegsamer werdende Hügelland zurückfallen.
„Das ergibt keinen Sinn“, fluchte Torin. „Wieso jagen die hinter uns paar Figuren drei ganze Abteilungen her?“
Sylva zuckte mit den Achseln. Sie wusste keine Antwort.
„Haben die sicher einen Magier dabei?“ bohrte der junge Leutnant nach.
„Zumindest einen“, erwiderte die Magierin. „Deshalb können wir sie auch nicht abschütteln.“
Sie sah nach Süden. Über dem Gebirge ballten sich Gewitterwolken zusammen, die einen beeindruckenden Kontrast zu den lichtdurchfluteten Hängen und der stechenden Sonne darstellten. Die Nähe der baelischen Grenze bereitete ihnen jedoch größere Sorgen als das Wetter. Sie würde dem Zurückweichen ein jähes Ende bereiten.
„Schau nicht nach oben“, sagte Sylva.
„Was gibt’s?“, erkundigte sich Torin.
„Die Krähe ist wieder da.“
„Wieso interessiert Dich die?“ wollte Torin wissen. „Die habe ich in den letzten Tagen immer wieder einmal gesehen.“
„Genau“, erwiderte Sylva. „Ich glaube, das Vieh ist der Grund, warum uns die Verfolger immer wieder aufspüren.“
Sie setzten sich an die Spitze des kleinen Zuges. „Im nächsten Wäldchen zieht einer Deiner Reiter meinen Umhang über. Nimm meine Kleider und pass auf meinen Stab auf.“
„Was hast Du vor?“
Die Magierin blieb die Antwort schuldig und konzentrierte sich. Die Krähe gehörte vermutlich einem der Zauberkundigen im Trupp der Verfolger. Lieber hätte sie sich dem Magier selbst gestellt, aber das war nicht möglich, ohne sich gleichzeitig mit den Soldaten einzulassen, und die Vermutung, es könnte sich um mehrere Magiebegabte handeln, verbesserte ihre Chancen nicht. So unerfahren wie ich können die feindlichen Zauberer gar nicht sein, gestand sie sich widerwillig ein.
* * *
Tierverwandlungen faszinierten Sylva von Anfang an. Der Spruch gehörte nicht zum Kern ihrer Ausbildung, aber sie sollten die Thesis kennenlernen. Alle waren überrascht, als sie sich auf Anhieb in einen Kaiseradler mit pechschwarzem Gefieder und weißen Flügelspitzen verwandelte. Intuitiv hatte sie jenes Tier ausgesucht, mit dem ihre Seele in Verbindung stand, was derartige Verwandlungen begünstigte. Den Zauber zu kennen hieß aber nicht, auch den Körper des Tieres zu beherrschen. Besonders bei Vogelgestalten kam es zu Unfällen durch mangelnde Koordination oder Erfahrung und Sylva meisterte gerade einmal den normalen Flug, aber eine bessere Gelegenheit würde sie nicht bekommen.
* * *
Als sie die Bäume erreichten, stieg die Magierin ab und gab Torin ihren Stab. Einer der Reiter, Larn, legte ihren Mantel um. Als er seinen Helm abnahm, ergoss sich wallendes schwarzes Haar über seine Schultern.
„Eine fast perfekte Täuschung, aber der Bart stört“, grinste Torin. Er stutzte. „Blick nach vorn!“ brüllte er, als er sah, dass sich Sylva entkleidete.
„Ich weiß nicht, was Du vor hast, aber sei vorsichtig.“ Verlegen nahm er die Kleider der nackten Magierin entgegen. So sehr er diesen Anblick unter anderen Umständen herbeigesehnt hätte, so schwer lastete jetzt der Druck auf seiner Brust. Sie setzte sich einer unkalkulierbaren Gefahr aus, bei der er ihr nicht beistehen konnte.
* * *
Sylva sah den Reitern nach, kauerte sich zusammen und konzentrierte sich auf die wesentlichen Elemente des Zaubers. Wirkungsdauer abschätzen, die kann nachträglich nicht verlängert werden.
Ihr Körper wurde leichter. Keine Spielchen. Der Gegner ist wendiger und kann besser fliegen.
Ihre Beine verkrüppelten zu starken, krallenbewehrten Fängen. Mein Vorteil liegt in der Kraft und im höheren Gewicht.
Es zog in ihren Armen, während sie sich unnatürlich verbogen und verrenkten. Wenn ich sie habe, darf ich nicht mehr loslassen.
Schwarze Federn entsprossen ihrer Haut. Ihre Nase wurde lang und krümmte sich. Die Landschaft erstrahlte in ungewohnter Schärfe.
Sie spürte die Liebkosung des Windes unter ihren Schwingen und stieß sich mit einem heiseren Schrei ab. Sie fand die Aufwinde nicht gleich, doch bald trug sie die Thermik höher und höher. Ein Feldhase wäre fein, schoss es ihr durch den Kopf.
Die Krähe, schlag die Krähe, meldete sich eine andere Stimme, tief aus ihrem Inneren und doch entfernt.
Weit unten, inmitten der grünen Hügel, sah sie Pferde in einer unnatürlich langen Reihe. Sie trugen Menschen auf ihren Rücken. Einer, der mit dem weißen Umhang, berührte etwas in ihr. Sie fragte sich, ob die seltsamen Zweibeiner wussten, dass sie als Beute zu groß waren und deshalb auf jegliche Tarnung verzichteten. Etwas weiter und doch viel zu nah – Zu nah? Wofür zu nah? – erkannte sie andere Reiter in noch größerer Zahl.
Die Krähe! Schon wieder war diese Stimme in ihrem Kopf, diesmal eindringlicher. Schließlich entdeckte sie einen Punkt am Himmel, der unbeirrt der kleineren Reiterschar folgte. Diesem frechen Vieh würde sie zeigen, was es hieß, in ihr Revier einzudringen.
Bald hatte sie die richtige Überhöhung. Sie winkelte die Schwingen an und ließ sich fallen. Immer schneller strich der Wind durch ihre Federn, berauschte sie, doch die Krähe erkannte die Gefahr und wich aus.
Sylva Fänge schlugen ins Leere und sie kreischte zornig.
Obwohl ihre Schwingen in den rasenden Fahrtwind griffen, schoss sie um etliche Flügelspannen an der Beute vorbei. Noch hatte sie die höhere Geschwindigkeit und die nutzte sie für einen zweiten Anflug, doch sie verfehlte abermals.
Plötzlich war die Krähe über ihr, hackte mit ihrem Schnabel nach ihrer rechten Schwinge. Einmal, zweimal spürte Sylva heftigen Schmerz am Flügel, dann am Nacken. Sie ist zu wendig. Dreh ab.
Wer mischte sich da in ihren Kampf ein? Konnte die Stimme recht haben? Sie wollte Höhe gewinnen. Sie flieht.
Lass sie, ein Hase schmeckt sowieso besser.
Schlag sie, bevor sie entkommt.
Wieder schoss sie herab. Obwohl die Krähe abermals einen Haken schlug, schloss sich Sylvas linker Fang um etwas Weiches. Die heftige Gegenwehr des anderen Vogels brachte sie aus ihrer stabilen Fluglage und der Krähenschnabel hackte zornig nach ihren Fängen. Der Instinkt des Adlers wollte loslassen, aber eine stärkere Präsenz zwang sie festzuhalten.
Ich habe keine Zeit mehr! Das wird knapp!
Sylva zog die Schwingen an und ließ sich fallen. Mit zunehmender Geschwindigkeit wurde das Flattern der Beute heftiger, doch dann erlahmte es, als unter dem Druck des Sturzflugs ein Flügel brach. Der Boden kam schnell näher und damit auch der gefährliche Wald. Eine letzte Korrektur