Junger Wilder. Urb Sinclair

Junger Wilder - Urb Sinclair


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Gehen fällt mir immer leichter. Ich werde immer schneller und nehme dabei einen lockeren Trab ein.

      Mit dem schneller werden, merke ich, wie sich auch die Umgebung verändert. Die Welt um mich wird zusehends farbiger und alles, wirklich alles verliert immer mehr an Gewicht.

      Es scheint mir gar, dass der Gewichtsverlust auf meinen eigenen Körper übergreift.

      Befreit trabe ich die Strasse entlang.

      Mit harmonischen Gefühlen laufe ich den Limmatquai hinauf, am Ufer des Flusses, immer weiter. Den immer stärker werdenden ‚Ruf der Freiheit’ in meinem Herzen verspürend, folge ich mit zunehmend reinerem Herzen dem Fluss der Liebe…

       ‚Wer lieben kann, der kann sich auch lösen.

       Denn wahre Liebe besteht im Herzen und nicht in der Zeit.’

       V. Ein wunderbar junger Morgen

      Die Stadt war noch in ihrem Tiefschlaf, als René seine Wohnung im dritten Stock verliess. Draussen, vor seiner Wohnungstüre, streifte er sich in der Dunkelheit seine ledernen Bikerstiefel über die Füsse. Das Licht schaltete er im Treppenhaus absichtlich nicht ein.

      In der morgendlichen Frühe konnte er grelles Licht nicht ausstehen. Es erinnerte ihn oft an die Zeit zurück, als er in der Rekrutenschule bei der Schweizer Armee war. Da kam jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe der Feldweibel in das Zimmer getreten, stellte gleich in allen Räumen das grelle Licht an und schrie sich in den leeren Gängen der Kaserne die Seele aus dem Leibe.

      Ein eiskalter Schauer trieb es ihm über den Rücken bei den Gedanken zurück an die Infanterie, wo er ausgebildet werden sollte. Froh darüber, dass sein kurzes Gastspiel beim Militär schon vorüber war, stieg er über die alte, knarrende Holztreppe ein Stockwerk tiefer.

      Auf dem Fussabtreter von Armin, der einst die Wohnung direkt unter René bezogen hatte, kauerte Armins dicker Kater Sansibar. Der Kater wurde nach der tansanischen Hafenstadt Sansibar benannt.

      Armin war früher ein grosser Fan von Freddie Mercury, dem einstigen Leadsänger der Rockgruppe ‚Queen’ gewesen. Da Sansibar die Geburtsstadt von Freddie Mercury ist, hat er sich dafür entschieden, dem dicken, getigerten Kater diesen Namen zu geben.

      René kniete sich kurz hin und kraulte das verwohnte Tier unter dem Hals. ‚Siba’, wie er von Armin kurz genannt wird, fing an zu schnurren. Er strich ihm noch ein-, zweimal über das glänzende Fell und ging weiter.

      In den dunklen Gassen war es noch ruhig. René lief ein paar Minuten das Niederdorf hoch, bis zum Haus von Robert. Da besass er einen Schlüssel zu seiner Garage. An diesem Ort durfte er für wenig Geld seine schwarze Chopper-Maschine unterstellen.

      Mit dem Motorradhelm an seinem Arm stiess er die schwere Triumph-Maschine, aus der Garage in die Einfahrt. Dort knöpfte er sich, auf dem Motorrad sitzend, die dunkelbraune Lederjacke zu und startete den Motor.

      Die Strassen in der Stadt waren noch beleuchtet. Unterwegs kamen ihm auf seinem Motorrad vereinzelt Fahrzeuge entgegen.

      Mit seiner schweren Maschine fuhr er den Berg hoch, wo er einen wundervollen Aussichtsplatz kannte. Der Motor unter ihm liess ein sehr angenehmes, tiefes und regelmässiges Brummen in seinen Ohren ertönen.

      Im Schein vom Lichtkegel des Motorrads und der spärlichen Strassenbeleuchtung fuhr er um einige Kurven den Käferberg hoch. In der Morgendämmerung fuhr er, bis zur Aussichtsplattform des Pflegezentrums.

      Er liebte die Aussicht von diesem Platz aus. Vor allem um diese Uhrzeit, wenn die meisten Menschen unten in der Stadt noch in den Federn lagen.

      Weit hinten, hinter den weissen Gipfel der Alpen, da sah man die ersten Sonnenstrahlen in den rosafarbenen Himmel scheinen. Für ihn war dies immer wieder ein überwältigender Moment, von diesem Platz aus den Sonnenaufgang über der Stadt mit zu verfolgen.

      Hier oben stand er schon oft mit Jeanette und früher natürlich auch mit seiner Schwester Sarah. Jetzt kamen die ersten Sonnenstrahlen über die Alpen.

      Er hatte sich mit den Armen leicht vorgebäugt auf das metallene Geländer gestützt, das auf der Brüstung der Aussichtsplattform angebracht wurde. Aus seiner Jackentasche klaubte er sich eine Packung Zigaretten hervor und steckte sich eine davon an.

      Zürich lag unten immer noch im Schatten der hohen Bergkette von den Glarner Alpen. Das Wasser glitzerte ganz leicht auf dem dunklen, lang gezogenen See, der sich in einem leichten Linksbogen um die Hügel zu den Voralpen streckt.

      Tief in Gedanken versunken sinnierte er über die Bedeutung seines Traumes von letzter Nacht und rauchte seine Zigarette fertig. Anschliessend genoss er die ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

       ‚Ein Leben ohne die Liebe, vergeben.

       Ein Leben, für die Liebe, vergeben.

       Ein Leben, an die Liebe vergeben.’

       VI. Oben am Zürichberg

      Am selben Morgen lag eine junge, sehr hübsche Frau schlafend in ihrem Bett. Durch die hohen Fenster, die mit einem dünnen, seidenschimmernd weissen, Vorhang zugezogen wurden, fielen vereinzelnd feine Sonnenstrahlen in den Innenraum, direkt auf das grosse Bett.

      Das schön geräumige Zimmer war sorgfältig und sehr ordentlich mit schönen Möbeln eingerichtet worden. Ansatzweise zeugte es von einem gewissen Wohlstand.

      Ruhig schlafend lag Renés grosse Liebe in seitlicher Lage auf ihrem grossen Bett, unter den seidig weissen Bettlaken. Die Eleganz des Zimmers strahlte mit der schlafenden Schönheit im Bett eine wunderbar süsse Harmonie aus, die sich annähernd zusammen zu einem Bildnis der Vollkommenheit fügte.

      Auf einmal wurden von aussen kleine Kieselsteine an das Fensterglas gespickt. Die Geräusche der kleinen Steine liessen die junge Frau erwachen.

      Langsam öffnete Jeanette Brunner die Augen und drehte ihr Antlitz dem Licht des Fensters zu. Ihre schlanke Figur war unter den seidenen Bettlaken sehr Körperbetont zu sehen.

      Mit einem leichten, schulterfreien Nachthemd bekleidet stieg sie aus dem Bett und ging Barfuss über den gepflegten Riemenboden zur Balkontüre hin. Sie schob den Vorhang zur Seite und schaute in den Garten hinaus.

      Wieder flogen feine Kieselsteine gegen die Scheiben. Diesmal an die grosse Glasscheibe der Balkontüre zur Veranda. Die Steinchen verursachten klackende Geräusche. Sie prallten von der Scheibe ab und fielen auf den harten Boden der Veranda.

      Hinter der Balustrade der überdachten Terrasse war unten im Garten niemand zu sehen. Jeanette holte sich eine Strickjacke von ihrem Kleiderständer, streifte sie sich über und schritt auf die grosse Terrasse hinaus.

      René, der von der dichten Schnitthecke verdeckt unten in der Einfahrt gestanden hatte, kam über die Stufen der Treppe hochgestiegen, die auf der Hinterseite des Hauses in den Garten führt. Hinter dem Rücken hielt er ein kleines Sträusschen aus schönen, dunkelroten Kletterröschen in den Händen.

      Unterhalb der Balustrade zur Veranda angekommen, begrüsste er sie sehnsüchtig und fragte, ob er zu ihr auf die erhöhte Terrasse hochsteigen dürfe. Mit einem strahlenden Lächeln blickte sie sich um und erlaubte es ihm.

      René stieg flink die Brüstung hoch und schwang seine Beine behände über die breite, schlichte Natursteinbalustrade, die zwischen den massiven Terrassenumrandungsmauern angebracht wurde. Er streckte ihr die eingepackten dunkelroten Röschen hin, die er wegen den Stacheln zuvor sorgfältig mit einem weissen Taschentuch umwickelt hatte.

      Mit entzücken nahm sie die Rosen entgegen. René küsste sie auf ihre vollen Lippen und strich ihr mit der Hand sanft über die zarten Wangen. Sie unterhielten sich kurz auf der Veranda vor ihrem Schlafzimmer. Doch schon bald merkte René, dass Jeanette ein leicht unbehagliches Gefühl hatte, da ihr Vater den Kontakt zu René einst untersagte.

      Sie küsste ihn nochmals mit voller


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