Junger Wilder. Urb Sinclair
den Lauf der Druckluftwaffe vor seinem zugekniffenen Auge aus dem offenen Küchenfenster und sagte: „Scheisse. Wieso hätte er das machen sollen? Ich glaube kaum, wenn er das mit dem Wagen gewusst hätte, uns an die Bullen verpfeifen würde. Der ist gewieft und würde uns sicher nicht anschwärzen. Dafür kenne wir Mike schon zu lange.“
Ein Schuss fiel aus dem Luftgewehr. Von der Limmat aus stieg ein Entenpaar in den klaren Himmel auf, nach denen Ritschi aus dem offenen Küchenfenster geschossen hatte. „Hast du eigentlich noch das Mobiltelefon von gestern Abend?“ fragte Ritschi.
„Nein!“ gab ihm René zur Antwort. „Ich habe es glücklicherweise auf dem Heimweg im Fluss versenkt.“
„Gut, dass du das gemacht hast.“ Ritschi knickte den Lauf des Luftgewehrs wieder nach unten und schob einen Federbolzen nach. Beim Laden der Waffe sprach er weiter: „So haben wir ein Problem weniger. Dort unten werden sie es wohl kaum finden.“
Er drehte sich erneut von René ab und schaute prüfend nach unten auf die Strasse. Ein Slalom-Skateboardfahrer näherte sich auf dem Gehsteig fahrend in einem beachtlichen Tempo. Ritschi nahm ihn sofort ins Visier. Er zielte kurz und drückte ab.
Der Slalom-Skater wurde vom abgeschossenen Projektil am Fuss getroffen und verlor vor lauter Schreck das Gleichgewicht. Ungebremst donnerte er gegen einen Laternenpfahl.
Das Skateboard wiederum sauste in die Gegenrichtung über den Randstein auf die Strasse, direkt vor ein heranfahrendes Fahrzeug. Vom rechten Vorderrad des Wagens wurde das Rollbrett erfasst und wie bei einem Katapult im hohen Bogen zurück über den Gehsteig und das angrenzende Metallgeländer in den Fluss geschleudert.
„HAA!! Das hättest du sehen sollen... So geil war das!“ Ritschi musste sich fast kugeln vor Lachen. Mit dem Gewehr als Stützhilfe auf dem Küchenboden den Lauf in den Händen haltend, fuhr er fort: „Eine echt hammermässige Szene, die sich da unten abgespielt hatte. Besser als im Film... René, das musst du gesehen haben.“
René ging an das offene Fenster. Zusammen schauten sie aus der Ferne auf die Strasse, wo sich der verdutze Unglücksrabe auf dem Gehsteig des Limmatquais wieder aufrappelte.
Mit einer fast kindlichen Begeisterung, erklärte Ritschi, was da unten vorgefallen war. Mittlerweile stand der junge Rollbrettfahrer wieder auf den Beinen und hielt sich laut fluchend den linken Oberarm.
„Irgendwie krieg‘ ich das Gefühl nicht los, als ob alles was du in letzter Zeit in die Hände nimmst, immer in einem riesengrossen Chaos endet“, rief René aus. „Wieso ausgerechnet dieser Skater? Der arme Typ hat jetzt kein Skateboard mehr. Du hättest besser auf jemanden geschossen, der wenigstens so aussieht, als hätte er Geld.“
„Ja, verdammt noch mal, es hatte mich einfach gereizt!“ gab sein Bruder leicht betroffen zurück, „Es tut mir ja auch Leid um sein Skateboard. Ausserdem, passiert ist passiert. Hab‘ ja nicht ahnen können, dass dem sein geliebtes Skateboard beim Unfall drauf geht.“
Nachdem René das Küchenfenster wieder geschlossen hatte, wandten sie sich von der Szenerie auf der Strasse ab und setzten sich gemeinsam an den Küchentisch.
Sie unterhielten sich weiter über das, was ihnen im schlimmsten Falle passieren könnte, wenn es bei den polizeilichen Ermittlungen doch auffliegen sollte, dass sie die Schuldigen am Brand des Fahrzeuges waren. Während dem Gespräch zwischen ihnen nahm René sein Frühstück zu sich.
‚Wir sind es alle. Und doch sind es viele nicht. REICH’
IV. Meine Schwester Sarah
Am Nachmittag fuhr René auf dem Weg zum Universitätsspital mit der schwarzen Triumph-Maschine vor ein Blumengeschäft vor. Die Sonne zeigte dem Stadtbewohner ein freundliches, wärmendes Lachen am wolkenlosen Himmel über der Stadt.
Auf dem Motorrad sitzend, streifte sich René den Helm ab. Er schaute sich kurz um und atmete zwei-, dreimal tief durch. Die Luft war klar und rein, wie sonst selten in mitten der dichtgedrängten Stadt.
Mit dem Motorradhelm am Arm überquerte er den Gehsteig und trat in den schön dekorierten Blumenladen ein. Entschlossenen Schrittes ging er durch das Verkaufsgeschäft auf die junge, blonde Blumenverkäuferin zu. Abgesehen von ihr waren im Laden keine weiteren Kunden zu sehen. Sie stand mit ihrem kurzen, kecken Haarschnitt hinter der Theke und schnitt mit einer Schere buntes Krepppapier zu. Neben ihr stand die alte Registrierkasse.
„Kann ich ihnen behilflich sein?“ fragte sie.
Mit ihren schönen, blauen Augen und einem leicht schüchternem Lächeln auf den Lippen, die grosse, glänzende Bandschere immer noch in den Händen haltend, sah sie ihm direkt in die Augen.
„Ja“, gab René zur Antwort, „sie könnten mir gerne fünf von diesen Sonnenblumen einpacken, die sie da nebenan in der grossen Blumenvase stehen haben.“
Die blonde Floristin legte die schwere Schere zur Seite und nahm ein Messer aus der Schublade hinter dem Tisch hervor. Leichten Schrittes ging sie damit vor dem Kunden zu den Sonnenblumen.
Bei der ersten fragte sie ihn: „Auf welche Stiellänge hätten sie denn gerne den Blumenstrauss?“ Sie deutete mit dem Messer eine Stelle an.
„Gerne noch etwas länger“, so René.
Fortlaufend zog sie eine neue Blume aus der grossen Vase und schnitt sie zurecht. Mit ihren fünf Sonnenblumen begab sie sich wieder hinter die Verkaufstheke. Vorsichtig packte sie die Sonnenblumen kunstvoll in bereitliegendes Manschettenpapier ein. Sie fragte ihn ein wenig schüchtern, ob es sonst noch etwas sein darf. Er verneinte ihr und bezahlte.
Über den Blumenstrauss, deren gelbe Blumenköpfe oben leicht aus dem Papier herausragten, lächelte er ihr noch einmal zu und wendete sich von ihr ab. Das Gesicht der Verkäuferin errötete hinter dem Rücken von René.
Vor dem Blumenladen packte er den Strauss mit den fünf Sonnenblumen vorsichtig in die Seitentasche des Motorrades.
‚Fünf Sonnenblumen, je eine für meine Liebsten!‘ dachte er sich und streifte sich vor dem Aufsitzen den schwarzen, matt-glänzenden Helm über den Kopf.
Einige Minuten später fuhr er mit tief knatterndem Motorengeräusch seiner Maschine vor dem Spital vor. Er stellte das Motorrad ab und begab sich zum Eingang der Frauenklinik.
Die ältere, gut gepflegte Dame am Empfangsschalter namens Rosie kannte René bereits von seinen häufigen Besuchen. Mit einem entzückten Lächeln auf den Lippen sagte sie zu ihm: „Ohh, wenn ich doch auch nur so viele Blumen bekommen würde wie sie deine Schwester von dir bekommt, dann könnten wir hier nebenbei noch ein Blumengeschäft betreiben“.
René musste lachen. Er mochte die immer aufgestellte und fröhliche Rosie am Empfang. Sie strahlte für ihn so eine angenehme, mütterliche Art und Weise aus, die ihn jedes Mal erneut beeindruckte. Zudem war sie auch sehr schlagfertig. Mit viel Humor wechselten sie untereinander noch ein paar Worte am Empfangsschalter. Anschliessend fuhr er mit dem Lift in den dritten Stock hoch.
Draussen in den Gängen war es leer und mucksmäuschenstill. Das Krankenzimmer von Sarah befand sich am anderen Ende des langen Ganges. Ihm war es nicht besonders wohl, als er den kühlen Gang durchschreitet. Er mochte den Geruch der Krankenhäuser nicht. Er fühlte sich dann auch immer auf irgendeine Art und Weise krank. Er musste sich sogar eingestehen, dass er Krankenhäuser überhaupt nicht leiden konnte, er hasste sie förmlich.
Das Echo seine Schritte hallten in den Fluren zurück. Es kam ihm vor als wäre eine unheimliche Last auf ihm, die ihn mit jedem Schritt noch mehr zu Boden drückte.
Tock, Tock, Tock... Seine Schritte hallten durch die Gänge, so als würde er an Krücken gehen.
Ja, seine Schwester leidet an Brustkrebs und das mit gut einundzwanzig Jahren. In seinen Ohren hört er noch die Worte des Arztes, der ihnen in der Arztpraxis die harte Diagnose vorlas. Er kam sich damals so vor wie beim Gericht, wo der Richter dem Schwerverbrecher die Urteilsverkündung mitteilt.
Endlich