Junger Wilder. Urb Sinclair

Junger Wilder - Urb Sinclair


Скачать книгу
ihm. Sachte drückte er sie ganz auf und trat in das Patientenzimmer ein.

      Im Krankenbett lag Sarah mit geschlossenen Augen. Sie war die einzige Patientin in diesem Zimmer. Die weiteren drei Betten waren fein säuberlich mit weisser Bettwäsche bezogen worden. Alles stand in der gleichen Ordnung für weitere Patienten im Zimmer bereit.

      Das obere Kopfende von Sarahs Bett wurde von den Pflegern in Schräglage gebracht. Mit dem steilen Winkel des Bettes sass sie eher, als dass sie darin liegen konnte. Der Brustkorb ihres schlanken Körper bewegte sich nur ganz leicht unter dem weissen Kittel.

      Das Zimmer war sehr hell, was durch die weiss lackierte Möblierung noch verstärkt wurde. Ihre Haut wirkte deswegen noch eine Spur bleicher als sie sonst schon war. Ihre schönen, fein geschnittenen Gesichtszüge gaben den Anschein, als hätte man sie in Stein gehauen. Ihr Haupt war kahl. Sie hatte von der intensiven Chemotherapie alle Haare verloren.

      René stand mit dem Strauss Blumen in den Händen am unteren Ende des Bettes und schaut verunsichert und hilflos auf seine jüngere Schwester.

      Aus dem offenen Fach des Nachttisches nahm er eine hohe Blumenvase aus farbigem Glas und ging damit zum Lavabo. Auf dem Wandtisch daneben stand vor dem Spiegel eine Büste aus Kunststoff, die eine Perücke trug. Er füllte die Vase mit Wasser auf und stellte die mitgebrachten Sonnenblumen sachte in die bunte Vase.

      Den Blumenstrauss stellte er leise auf den kleinen Nachttisch. Das Licht im Raum brach sich in der farbigen Vase und reflektierte es über das Bett seiner geliebten Schwester.

      Im Spiel des Lichtes betrachtete er seine Schwester, die langsam und unendlich müde die Augen öffnete. Sie sahen sich Stumm in die Augen. René nahm Sarahs linke Hand in die seine und hielt sie fest. Dabei versuchte sie ein wenig zu lächeln.

      „Hey, mein Goldschatz, schau mal, was ich dir mitgebracht habe“, flüsterte René leise zu ihr und sprach fast tonlos weiter: „Ein paar Sonnenblumen… Deine Lieblingsblumen.“

      Ihre Augen strahlten. „Danke vielmals! Es ist schön, dass du gekommen bist“, gab sie ihm mit ihren schönen, sanftmütigen Augen zur Antwort.

      Seinen leichten Händedruck auf dem Bett erwidernd sprach sie weiter: „Es ist sehr einsam hier in diesem Zimmer. Gestern habe ich mich unglaublich gefreut, dass Jasmin und auch das erste Mal mit ihr Ritschi hier gewesen waren. Das war wunderbar für mich. Ich denke aber, dass Jasmin sehr lange brauchte bis sie Ritschi überzeugen konnte mit ihr in das Krankenhaus zukommen. Es war ihm sichtlich unwohl hier drinnen…“

      René schmunzelte bei dem Gedanken daran, mit welchen Gefühlen Ritschi das Krankenhaus betreten haben musste.

      Sarahs älterer Bruder erzählte ihr von den Geschehnissen des letzten Abends und von Robert, der ihm eine neue Auspuffanlage an das Motorrad montiert hatte. Da er seine Schwester nicht beunruhigen wollte, verschwieg er ihr erstmals den heutigen Besuch der Polizei. Anschliessend unterhielten sie sich noch gemeinsam weit über eine Stunde miteinander.

      Zuletzt versprach ihr René: „Am Montagmorgen komme ich wieder bei dir vorbei. Ich glaube in ein bis zwei Monaten ist das Ganze durchgestanden und wir werden es zusammen wie früher haben“.

      Sarah blickte ihn darauf hin traurig an, so, als ob sie ihm sagen würde: ‚René, du weisst was der Arzt gesagt hatte. Da besteht keine Hoffnung mehr für mich, in ein bis zwei Monaten werde ich mit grösster Wahrscheinlichkeit Tot sein. Nichts ist mehr wie früher. Mein lieber Bruder, bleib bitte realistisch...’ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich.

      2. Traum: Der Ruf der Freiheit - 1

      Am Morgen in der Früh. Ich stehe beim Central und schaue den Leuten zu, wie sie aus den Strassenbahnen ein und aus steigen.

      Die reinste Hektik um mich herum. Fast alle haben die gleiche Absicht, so schnell wie möglich an ihre Arbeitsplätze zu kommen. Keiner dieser Passanten ist gut anzusprechen, da sie die Zeit drängt. Denn Zeit ist ja bekanntlich Geld in unserer Gesellschaft und Geld verschenkt man nicht gerne…

      Der Tag ist grau um diese Uhrzeit. Grau, wie der Asphalt auf dem ich stehe. So grau wie die Luft zum Atmen im morgendlichen Nebel, der nur zäh und mühsam mit den wärmenden Strahlen der Sonne um diese Jahreszeit entflieht. Grau auch die Gesichter und die Gemüter der Leute um mich...

      -Grau-

      Grau in tausend Formen.

      Es ist mein sehnlichster Wunsch, aus dieser Tristesse zu entfliehen. Hinein in eine Welt voller Farben. In eine Welt ohne Zwänge. Ohne die Zwänge dieser Gesellschaft, die an diesem Morgen um mich herum herrschen und beherrschen.

      Ich möchte aus dieser Welt entfliehen. Ich möchte in eine andere Welt. In eine Welt, in der ich meinen natürlichen Trieben nachgehen kann. Eine, in der ich an beliebige Ecken pinkeln kann, wenn es mir passt. Ich möchte eine offene, ehrliche Welt ohne Grenzen.

      Ich möchte eine Welt, wo man die Dinge mit gegenseitiger Liebe und Respekt bezahlt. Eine Welt in der das Wort ‚einsam’ nicht mehr vorkommt und eine, in der man keine Mauern mehr aufbauen, sondern sie nur noch einreissen kann.

      ‚Verdammt, ich möchte Frei sein…‘

      Ein junger Knabe mit Hut löst sich aus der grauen Masse. Skurrilerweise kommt er mit einem Fritzstock direkt über die Schienen der Strassenbahn auf mich zugelaufen.

      Unter dem rechten Arm trägt der Dreikäsehoch ein dickes, schweres Buch, das als einziges in dieser grauen Welt rot leuchtet. Denn auch der kleine Junge ist grau angezogen. Kleines, graues Jackett mit ebenso grauem Hut, darunter ein helles Hemdchen mit schwarzer Krawatte und dunkelgrauer Flanellhose.

      Schon von weitem habe ich das Gefühl, dass ich in einem ständigen Augenkontakt mit dem Jungen getreten bin. Als er mit Hut und Anzug jetzt vor mir steht und seine niedlich kleine, runde Nickelbrille richtet, kommt er mir wie ein kleinwüchsiger Erwachsener vor.

      Da er ein paar Köpfe kleiner ist als ich, fragt er mich zu mir aufschauend mit der Stimme eines Kindes: „Glaubst du an Gott? Glaubst du dass Jesus Christus unser Erlöser ist?“

      Verdutzt stehe ich da und schaue ihn an, als hätte ich ihn nicht verstanden. Er wiederholt seine einfache Frage mit einem kindlichen Lächeln im Gesicht. Da ich eine solche Frage von einem kleinen Jungen nicht erwartet habe, betrachte ich ihn von oben herab sehr skeptisch.

      Ich will den Mund öffnen und ihm eine Antwort auf seine gestellte Frage geben. Er kommt mir aber zuvor und hebt schnell seinen kleinen rechten Zeigefinger an seine fein geschnittenen Lippen.

      Ein sanftes Lächeln legt sich über seine jungen Gesichtszüge und er spricht zu mir weiter: „Still! Sag es mir nicht, denn ich bin ein Unwissender. Nimm dieses Buch, es ist das ‚Wort Gottes’ und trage es in deinem Herzen. Es verhilft dir zu deiner Freiheit und es zeigt dir, deinen Sinn für die Gerechtigkeit in dieser Welt zu finden.“

      Er nimmt es unter seinem linken Arm, mit dem am Fritzgriff eingehängten, schwarzen Gehstock hervor und überreicht es mir in einer feierlichen Haltung.

      Ich nehme es in meine Hände.

      Das Buch fühlt sich schwer und geschmeidig in der ledernen Einfassung an. Es bringt wohl ein unglaubliches Gewicht auf die Waage. Ich schätze es auf mehrere Kilo, dieses ‚Wort Gottes’.

      ‚Wie soll ich dieses schwere Buch bloss in meinem Herzen tragen?‘ schiesst es mir durch den Kopf.

      Von dem grossen, roten Buch aufschauend, will ihn fragen, ob ich es für mich lesen soll. Der Knabe mit grauem Hut und runder Brille hat sich aber schon wieder in die vorbeiströmende, graue Menschenmasse eingegliedert und ist für mich schon unerreichbar weit weg.

      Von der grauen Masse mit dem verschlungenen Knaben wende ich mich ab. Mit dem schweren, roten Buch unter meinem linken Arm schlage den Weg Richtung Limmatquai ein.

      Im weitergehen komme ich ins Stutzen. Das rote Buch, das ich trage, wiegt nur noch etwa die Hälfte, vom anfänglichen


Скачать книгу