Tagebuch einer Verlorenen. Margarete Tagebuch Böhme

Tagebuch einer Verlorenen - Margarete Tagebuch Böhme


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Krankheit hätte so viel gekostet, und er müsse erst mal wieder zu Atem kommen. Wir wurden auch sehr gut mit unseren zwei Mädchen fertig. Die Köchin war auch schon eine ältere Person und schon sieben Jahre bei uns. Als Stubenmädchen hatten wir damals Lene Hannemann, eine Tochter vom Fischer Hannemann aus der Wiedemanngasse. Lene war erst siebzehn Jahre und ein sehr nettes, hübsches Mädchen. Sie konnte so schön mit mir spielen. Leider kam sie im September mit einem großen Krach weg. Weshalb, weiß ich nicht, es würde mich auch weiter nicht interessiert haben, wenn sich nicht unmittelbar daran für mich ein Ereignis geknüpft hätte.

      Also eines Tages erschien Frau Hannemann bei uns, machte einen Höllenlärm und schrie, Lene soll sofort ihre Sachen packen und mitkommen. Auf der Hinterdiele lief Vater ihr in den Weg, und da stellte sie ihn und schimpfte greulich und fuchtelte ihm immer mit der eisernen Fischwage vor den Augen, daß ich heil bange war, sie könnt’ ihn hauen. Sie sprach so rasch, daß ich nur ein paar Worte verstand, und die waren nicht die feinsten. Vater rief, sie solle sich zum Teufel scheren, aber sie spektakelte fort und lief in die Küche und brüllte laut: »So’n verfluchten Kirl! Sin Stackels Fru is noch nich richtig kold in de Grund, un nu will so’n Beest all son junge Deern angahn. – Man schull det Aas verraftig bi de Been in ’ne Rökerkammer uphangen.« Mir war richtig unheimlich, ich dachte, Frau Hannemann war verrückt geworden; ich war froh, als sie mit Lene aus dem Hause war.

      Zwei Tage danach, wie ich aus der Schule kam, saß die halbe Verwandtschaftsklerisei um den runden Tisch im Wohnzimmer und trank Kaffee. Onkel Henning und Tante Wiebke, Lehnsmann Pohns und Tante Frauke und natürlich die unvermeidliche Tante Frieda. Vater sah sehr rot und alteriert aus.

      »Ja, nun komm man her, Thymi«, sagt er, »hier ist großer Familienrat deinetwegen abgehalten. Die Tanten und Onkeln meinen partout, du müßtest nach T. in Pension. Was meinst du dazu? Willst du das?«

      »Thymi hat gar nichts zu meinen und zu wollen, sondern nur zu sollen und zu gehorchen, und als ordentliches Kind das zu tun, was wir Erwachsene zu ihrem Besten anordnen«, sagte Tante Frieda mit ihrer harten, spitzen Stimme.

      »Du altes Aas«, dachte ich bei mir, sagte aber natürlich nichts.

      »Jawoll, jawoll, nur zu gehorchen«, päppelte Onkel Henning nach, und die Tanten nickten dazu wie porzellanene Pagoden …

      Ich merkte wohl, Vater war es lange nicht recht, aber er ist viel zu gut, und er kann nicht gegen Tante Frieda mit ihrem Maulwerk an. So wurde denn beschlossen, daß ich am 1. Oktober nach T. sollte. Als die Sippschaft fort war, tröstete Vater mich und sagte, er tät mich doch bald wieder heim holen und er würde mich jeden Monat einmal besuchen und mir jedesmal etwas Schönes mitbringen.

      Vater hat mich sehr lieb.

      Ich dachte erst, ich würde gar nichts zu schreiben haben, aber nun ich einmal im Gang bin, sehe ich, daß ich doch eine Menge erzählen kann. Wenn ich alles, was ich in T. erlebte, niederschreiben wollte, würde ich ja das halbe Buch ausfüllen. Ich werde mich deshalb nur an die Hauptsachen halten.

      Zuerst kam ich zum Pastor Flau. Da waren noch zwei Schulmädchen mehr in Pension. Die Lebensführung im pastorlichen Haushalt machte seinem Namen alle Ehre: sie war mehr als flau. Frau Pastorin hatte fünf kleine Kinder und kein Dienstmädchen, dafür aber drei Haushaltselevinnen, die jede 350 Mark zubezahlten. Diese drei Mädel hatten jede ihre bestimmte Arbeit oder »Woche«, wie sie sagten. Eine besorgte die Küche, eine machte die Zimmer, eine hatte die Kinderstube zu beaufsichtigen. Jede Woche wechselten sie ihre Beschäftigung ab. Wenn dann das Jahr um war, hatten sie alles gelernt: Kochen, Haushalt, Kinderhüten, und der Frau Pastorn war ihre Arbeit umsonst getan und verdiente sie ausgerechnet noch 1000 Mark dazu. Sie selbst, die Frau Pastorn, schrieb in ihrer freien Zeit Romane. Sie sagte, es sei der schönste Traum ihres Lebens, mal in der Gartenlaube herauszukommen.

      Es gab die ganze Woche mittags Gehacktes, Sonntags Braten, Montags Frikandellen, Dienstags Klopse, Mittwochs falscher Hase, Donnerstags aufgebratene Scheiben vom falschen Hasen, Freitags Haschee, Sonnabends Ragout von Suppenfleisch oder, wenn es gut ging, gefüllten Sellerie oder verlorene Vögel, nämlich Gehacktes in Kohlblätter gewickelt und gebraten. Einmal, als der Generalsuperintendent zu Tisch da war, gab es Frikandellen als Zwischengang. Und der alte Herr lobte diese Frikandellen über alle Maßen und bat sich das Rezept aus. Na – wir dachten unser Teil. Uns wurde schlimm, wenn wir sie sahen. Vater kam jeden ersten Sonntag im Monat und brachte mir viel Schokolade mit. Und fast jedesmal bekam ich ein Zehnmarkstück als Taschengeld. Da aß ich mich in der Konditorei an Crêmeschnittchen satt, wenn ich mittags hungrig vom Tisch aufstand. Zuweilen besuchte Meinert mich auch. Nach einem Jahr wurden Flaus versetzt. Ich kam dann zu zwei alten Fräuleins, die Pensionärinnen hielten. Im ganzen waren wir sieben Mädchen da. Die andern waren Nordmarscher Hofbesitzertöchter, wir waren fast alle ungefähr gleich alt und gingen natürlich alle in Fräulein Lundbergs höhere Töchterschule. Insofern war es in der neuen Pension netter, als die Kost dort besser war und nebenan ein Gymnasialprofessor wohnte, der auch Pensionäre hielt und zwar Knaben, wodurch wir etwas Unterhaltung hatten. Unsere Pensionsmütter, die Fräulein Saß, lebten in Feindschaft mit Professors wegen der Hühner. Professors Hühner kamen nämlich immer in Saß’ Garten und zerkratzten die Spargelbeete und wühlten die Blumenrabatten um. Die Fräulein Saß verlangten, Professors sollten ihre Hühner aufschütten, aber Professors behaupteten, es wären andere Hühner, ihre Hühner täten so etwas nicht. Nun waren aber sonst gar keine Hühner in der Nachbarschaft da. Die Fräulein Saß und Professors wechselten wegen der Hühner Dutzende von beleidigenden Briefen, und es war eine Seltenheit, wenn Professors Hühner nicht unser Tischgespräch beherrschten.

      Trotzdem es uns streng verboten war, mit Professors Pensionären zu reden, lernten wir sie doch kennen, und zwar in der Mittagsstunde, wenn die alten Damen schliefen und wir uns unten im Garten in der Laube aufhielten, während die Jungen nebenan auf dem Turnplatz waren. Sie kletterten dann über die Planke und kamen zu uns oder saßen auf dem höchsten Turnreck, wo sie uns auch sehen und mit uns sprechen konnten. Die meisten von ihnen waren Nordmarscher und Nordschleswiger und einige kannte ich von meinen Besuchen bei unseren Verwandten her. Auch ein Vetter von meiner besten Freundin Anni Meier, die auch bei Saß’ in Pension war, Boy Detlefs, war bei Professors. Die beiden wollen sich heiraten, wenn Boy erst Doktor ist, er will nämlich Medizin studieren. Damals ging er noch in Sekunda. Dann war auch ein richtiger Graf da, Casimir Osdorff mit zwei f, das ist nämlich feudaler, sagt er. Es existiert auch noch eine Familie Osdorf mit einem f, aber das ist nur ein kleiner ordinärer Adel und zählt nicht, sagt Osdorff.

      Wir hatten jede unseren speziellen Freund, und Osdorff war meiner. Er ist nicht gerade hübsch. Seine Unterlippe hängt ein wenig vor, sein Gesicht ist ein wenig gedunsen und seine hellgrauen Augen sehen immer aus, als ob er schläft. Anni nennt seine Augen »Schellfischaugen«. So ist er noch heute. Boy Detlefs behauptet, Osdorff wäre dumm wie Stroh und faul wie Ruß. Was mir so sehr an ihm gefiel, und noch heute gefällt, sind seine Stiefel und seine Hände. Ich habe nie zuvor so wunderbare Stiefel und so entzückende Hände gesehen. Die Stiefel sitzen wie an den Füßen gewachsen, glatt und blank wie Aalhaut, und die Hände sind weiß und samtweich, und die Nägel sind so schön rosenrot mit schneeweißem Rand wie bei einer sehr feinen Dame.

      Casimir Osdorff ist das zweitjüngste von sechs Kindern, und seine Mutter ist Witwe. Viel Vermögen ist nicht da. Der älteste Sohn bekommt das Gut und da dieses überschuldet ist, bleibt für die anderen nicht viel übrig. Nach seinem Abiturium sollte er eigentlich Forstwissenschaft studieren. Er hatte noch nicht sein Einjährigenzeugnis.

      Osdorff machte gar kein Hehl daraus, daß ihm das Lernen zuwider war. Er sagt, die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse wären oberfaul, und der Staat würde über kurz zugrunde gehen, wenn nicht eine kräftige Reaktion ans Ruder käme. Anstatt daß so viele Millionen für allerhand Dummereien zum Fenster hinausgeworfen würden und die Regierung mit dem Mob kokettiere, indem sie allerlei Wohlfahrtsbestrebungen sanktioniere, müsse ein Ehrenunterstützungsfonds für unbemittelte Edelleute gegründet werden. Dieser Fonds müsse dazu dienen, daß die Zinsen an alle richtig feudalen unvermögenden Adligen derartig verteilt würden, daß ihnen dadurch ein standesgemäßes Auskommen ohne Arbeit ermöglicht werde und die Edelsten des Reiches nicht gezwungen wären, sich in niederem Broterwerb mit


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