Tagebuch einer Verlorenen. Margarete Tagebuch Böhme

Tagebuch einer Verlorenen - Margarete Tagebuch Böhme


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Übergangslagen, der sogenannte breite Mittelstand, sei der Krebsschaden eines feudalen Staatswesens. Der Adel sei da zum Befehlen und das Proletariat zum Arbeiten und Dienen, und die Geistlichkeit für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Bourgeoisie sei der Nährboden aller Revolution. Es sei eine Schande, daß ein junger, hochbegabter Mann aus altem, edlem Geschlecht, wie er, ein Osdorff mit zwei f, mit Bauernjungen und Bürgersöhnen dieselbe Schulbank drücken und sich von bürgerlichen Lehrern Anschnauzereien gefallen lassen müsse. Er entwickelte mir oft stundenlang seine Ansichten, die ich keineswegs unterschreiben möchte, die ich aber teilweise sehr merkwürdig und interessant fand.

      Die anderen Mädchen wollten ihre Freunde alle heiraten, aber Osdorff sagte mir gleich im Anfang, daß er mich nicht heiraten könne. Vor Jahren, erzählte er mir, habe er sich in die entfernte Verwandte einer angeheirateten Cousine verliebt. Als besonnener Mann sei er aber nicht gleich mit einer Erklärung losgerückt, sondern hatte sich vorher erst gründlich erkundigt und ihren Stammbaum beaugenscheinigt. Und da hatte es sich herausgestellt, daß ihre Urgroßmutter mütterlicherseits eine sächsische Geheimratstochter namens Düppel gewesen war. Niemals hätte er es sich verziehen, wenn er durch ein leichtfertig gegebenes Ehrenwort seiner Familie eine solche Schmach zugefügt hätte. Es sei sein Stolz und seine Ehre, sein Wappenschild blank zu halten, und diese Urgroßmutter Düppel wäre ein furchtbarer Fleck gewesen. Ich muß sagen, seine Aufrichtigkeit berührte mich sympathisch. Sonst gefällt mir, wie gesagt, nichts an ihm wie die Nägel und die Hände.

      In Fräulein Lundbergs Schule schnitt ich soweit ganz gut ab. Ich war gerade ein halbes Jahr in der ersten Klasse, als der große Kladderadatsch kam, der meinem Aufenthalt in T. ein vorzeitiges Ende bereitete. Das kam nämlich so. In T. wurde eine große Hochzeit gefeiert, zu der Fräulein Saß und auch Professors eingeladen waren. Wochenlang hatten die Fräuleins überlegt, ob sie Professors wegen ablehnen sollten oder nicht. Die Hühnerfeindschaft war so groß, daß sie stark dreiviertel geneigt waren, eine Absage zu schicken, aber schließlich entschlossen sie sich doch, hinzugehen und Professors wie Luft zu behandeln.

      Wir hatten für den Hochzeitstag mit Professors Jungen einen Ausflug nach dem Grünen Baum verabredet. Das heißt nur Anni Meier, Lina Schütt und ich, Boy Detlefs, Heite Butenschön und Osdorff. Die anderen Mädchen waren alle jittig. Der »Grüne Baum« ist ein einsames Wirtshaus, eine Stunde Wegs von T., und ist berühmt wegen der feinen Grogs, die es da gibt.

      Wir gingen gegen fünf Uhr nachmittags weg und bummelten langsam die Chaussee hinaus, so daß es schon fast sieben war, als wir im »Grünen Baum« anlangten. Dort eingekehrt, bestellten wir uns sechs Grogs und stießen an, und tranken aus. Das Zeug brannte wie Feuer auf der Zunge, ich kann nicht sagen, daß ich etwas Feines daran finden konnte, aber Boy sagt, wir müssen anstandshalber noch eine Runde nehmen, sonst sehe es zu lumpig aus, und auf einem Bein könne man überhaupt auch nicht stehen. Ich dachte: denn man zu … halt den Atem an und trink es wie Medizin … Aber es war sonderbar, ob die Wirtin nun das zweite Mal besseren Rum genommen und mehr Zucker hineingetan, das zweite Glas schmeckte viel besser, man wurde so schön warm danach und so lustig. Nachher tranken wir noch ein Glas, »weil’s so schöne ging«, sagte Boy Detlefs, und wir wurden immer ausgelassener und lachten wie toll. Dann ließ Boy Detlefs eine Bowle kommen und sagte, wir feierten seine und Annis Verlobung, und da gabs ein Hallo, und dann tranken wir alle miteinander du und du. Zuletzt wurde mir übel von dem heißen starken Zeug und die anderen mochten auch nicht mehr. Um viertel nach neun brachen wir auf, aber es wurde beinahe zehn, ehe wir fortkamen. Wie ich aus der warmen Stube hinaus in die Luft trat, drehte sich alles vor meinen Augen, und es war gut, daß Boy Detlefs hinter mir stand und mich festhielt, sonst wäre ich umgepurzelt.

      »Ja, Thymian, das ist recht, bleib man bei uns und halt dich lieber an Menschen, als an den ollen Kretin«, sagte er, »der Osdorff hat heute abend genug mit all seinen f’en zu schleppen. Er hat heute davon vier, zwei f’n im Namen und zwei in seinem Kopf, nämlich ’n Affen …« Und während er meine Hand festhielt, bumste er Osdorff, der tatsächlich erbarmungswürdig aussah, auf den Schädel und schrie: Wie klingt das hohl! Wie klingt das hohl! Darüber mußten wir lachen. Aber Anni kam wie ein Stoßvogel von hinten und haute mich auf die Hand, die Boy festhielt, und rief: ich solle mich fortscheren, ich hätte mit ihrem Bräutigam nichts zu schaffen. Da nahm Boy sie in den anderen Arm und dann trollten wir ab, indem wir bunte Reihe bildeten und die Chaussee sperrten.

      Aber als wir an die Luft kamen, wurde uns recht schlecht. Anni jammerte laut, sie konnte nicht gehen, ich schleppte mich auch nur mit Mühe und Not fort, und Lina Schütt hinkte wie ’ne angeschossene Krähe, aber die Jungen, das heißt Boy Detlefs und Butenschön, hielten uns fest und bugsierten uns weiter. Da auf einmal gab es einen Knacks in der Reihe. Osdorff, der an einem Ende ging und von Lina untergefaßt wurde, war vornübergefallen und riß Lina mit und um ein Haar wären wir alle gestürzt. Aber während Boy und Butenschön sich um die beiden, die sich im Chausseeschmutz wälzten, bemühten, taumelten Anni und ich seitwärts nach dem Graben. Ich setzte mich auf einen Chausseestein und Anni warf sich auf den Bauch ins nasse Gras und fing laut an zu schreien, sie müsse sterben und sie gehe keinen Schritt weiter, es sei schon einerlei, wo sie verende, es wäre doch gleich vorbei mit ihr. Niemand hörte auf sie, denn Boy und Butenschön hatten genug mit Osdorff und Lina zu tun und es gelang ihnen nur, Lina auf die Beine zu bringen, aber fort konnte die auch nicht mehr. Die beiden Jungen beratschlagten, was sie tun sollten und kamen endlich zu dem Schluß, daß sie nach T. laufen und einen Wagen holen wollten, damit wir alle noch vor Toresschluß in die Kajüte kommen konnten. Dann rannten sie fort und wir blieben an der Chaussee zurück.

      Lina und Anni heulten um die Wette, Osdorff grunzte wie ein Schwein im Chausseepatsch, und die Mädchen fingen an zu würgen und sich zu erbrechen. Das ekelte mich so, daß mir beinahe auch schlimm geworden wäre, und deshalb schleppte ich mich etwas weiter fort, aber die Füße waren mir so schwer, daß ich mich bald wieder am Graben hinsetzte. Ich merkte wohl, daß ich ebenso wie die andern total betrunken war, aber ich wußte, sah und hörte alles. Weil mir der Kopf so weh tat, streckte ich mich lang im Gras aus und blinzelte in die Luft. Der Mond spiegelte sich in den Regenpfützen der Chaussee, und Millionen Sterne standen am Himmel. Wie ich so hinauf sah, war es mir, als wären die Sterne lauter helle Menschenaugen, und als gehörten zwei davon, zwei goldne, klare, meiner lieben toten Mutter. Da machte ich die Augen zu, denn ich konnte diese beiden Sterne nicht ansehen. Mir war plötzlich sehr weh ums Herz. Ich schämte mich so fürchterlich. Es ist gewiß nichts Feines, wenn Schulmädchen sich vollsaufen und wie das liebe Vieh am Wege liegen bleiben. Aber wer konnte auch wissen, daß das Deibelszeug so nachwirkt. – Damals, an dem Therese Krones-Abend, war es doch viel netter. Das habe ich jetzt heraus, daß ein Sektrausch ein viel feineres Ding ist, als ein ordinärer Rumaffe, das ist ungefähr ein Unterschied wie zwischen einem Rassehund und einem ekligen, kläffigen Dorfköter. Nach einer Weile kam ein Wagen. Als die Leute das Jammern von Anni und Lina hörten, hielten sie an und kletterten ab. Es war ein Schlachter, der mit einigen Viehkommissären über Land gefahren war, und diese Menschen sammelten nun, unter lautem Gelächter, Osdorff und die Mädchen auf den Wagen. Um nicht allein zurückzubleiben, kletterte ich auch hinauf, aber ganz allein, denn mit mir wurde es schon allmählich besser. Was wir da auf dem Wege nach T. für Witze und rohe Späße über die höheren Töchter und den gelehrten Jungen anhören mußten, das geht schon auf keine Kuhhaut mehr. Es war das reine Fegefeuer. Anni und Lina waren noch nicht in der Verfassung, alles zu verstehen, aber ich hab’ auf diesem Wege meine Sünden an dem Abend abgebüßt, das kann ich mit gutem Gewissen behaupten.

      Um nur nichts zu hören, stopfte ich mir die Finger in die Ohren, so entsetzlich war das. In T. luden uns die Kerle vor dem Schlächterladen ab, und die Frau Schlächtermeister kam mit der Lampe heraus, und die Dienstmädchen und Gesellen ebenfalls, und das Lachen und Witzereißen ging von vorne los. Wie Osdorff nach Hause gekommen ist, weiß ich nicht. Fräulein Saß’ Mädchen brachte Lina und Anni zu Bett und für Lina mußte der Doktor geholt werden. Ich suchte es zu verhindern, aber Lina war wie verrückt und wollte partout sterben, gerade wie vorher Anni.

      Na, am anderen Morgen war die Stadt natürlich voll von unserem Abenteuer. Fräulein Lundberg schickte uns nachmittags aus der Schule nach Hause, weil eine Untersuchung eingeleitet werden sollte. Das Resultat dieser Untersuchung aber war, daß wir alle drei geschaßt wurden. Fräulein Lundberg behauptete,


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