Scrittura Segreta. Roman Odermatt
römischen Kaiser errichtete auch die christliche Kirche eine Zwangsherrschaft. Gegen Ende des vierten Jahrhunderts ließ sie in Trier den ersten Ketzer hinrichten. Aus Verfolgten wurden Verfolger.
Warum verwandelte sich eine religiöse Idee in eine andere, fast gegenteilige? Wie ist die expansive, die Welt verändernde Kraft der christlichen Kircheninstitution zu erklären? Wohl vor allem aus der Spannung zwischen Geschlechtsfeindlichkeit und Sexualgier, zwischen Seele und Körper des Menschen.
Interessanteres als das Entstehen der christlichen Religion lässt sich meiner Meinung nach in der Geistesgeschichte schwerlich finden. Der Prozess, wie sich eine Religion aus einer anderen entwickelt und dann fast in ihr Gegenteil verkehrt, lässt sich wie in einem Fixierbad mit der verstreichenden Zeit Schicht um Schicht sichtbar machen.
Prolog
Rom
40 n. Chr.
Tausende von Menschen sehen dem blutigen Arenakampf der Gladiatoren entgegen. Im tosenden Oval des Amphitheaters steigt der mauretanische König Ptolemaeus vom Wagen, begrüßt den römischen Kaiser und nimmt neben ihm auf der Tribüne Platz. Caligula hat es sich unmittelbar über der Kampfbahn in den weichen Kissen seines Sessels bequem gemacht und den Einzug des Afrikaners betrachtet. Auch der jüdische König Herodes Agrippa hat auf der Kaisertribüne Platz genommen.
Langsam füllen sich die Logen. Im Amphitheater gruppiert sich Rom in der strengen Gliederung seiner Klassen: Die Tribünen unmittelbar an der Arena sind die Ehrenplätze für die Senatoren, die nächsten Reihen belegt der Ritterstand, schlussendlich folgen die Plebejer und Proletarier. Die ärmsten finden sich hingegen weiter unten: in der Arena. Dort beginnen die Vorbereitungen für die Gladiatorenkämpfe. Prächtige Harnische, Arm- und Beinschienen und Flügelhelme mit Visier und Nackenschutz werden angelegt. Nur die Brust soll frei bleiben zum Empfang der tödlichen Wunden.
Der Lärm schwillt an. Die Gladiatorenmeister gruppieren die Kämpferpaare. Als ein untersetzter Syrer gegen einen um zwei Köpfe größeren Mauren antreten soll, erhebt sich wütendes Pfeifen, sodass der Aufseher schnell die Paare neu aufstellen lässt. Die Zuschauer beschweren sich, weil sie einen ordentlichen Kampf sehen wollen. Der riesige Maure bekommt einen wegen seiner Wildheit gefürchteten Juden als Gegner.
Die Paare teilen sich in zwei Fronten. Auf der einen Seite sammeln sich die mit Helm und Schild, mit Kurzschwert und Schienen gewappneten Kämpfer. Zu ihnen gehört auch der Maure. Auf der anderen Seite stellen sich die Gladiatoren auf, die ohne Helm und Panzer, aber mit einer dreizackigen Fischharpune kämpfen werden. Die gefährlichere Waffe des Juden ist aber das geflochtene Netz. Damit kann er seinen Gegner durch einen geschickten Wurf wehrlos machen.
Sklaven bringen den Todgeweihten goldbestickte Tuniken, purpurne Mäntel und Pfauenfederbüsche für die Helme. Als sich die Gladiatoren geschmückt haben, gibt der Kriegstribun, dem die Leitung der Kampfspiele übertragen ist, das Zeichen zum Beginn.
Unter dem schmetternden Klang der Hörner ziehen die Gladiatorenpaare vor die Kaisertribüne. Die Blicke der Zuschauer sind auf Caligula gerichtet. Grüßend hebt er die Hand und entlässt die Schar, die langsam die weite Bahn der Arena umrundet. Beifall des Volkes brandet von den Sitzreihen herunter.
Die vielen Helfer in der Arena räumen nun das Feld, und die Masse verstummt.
Vorsichtig belauern sich der Maure und der Jude, versuchen sich zu überrumpeln. Wenn der eine vorstößt, weicht der andere zurück. Kurzschwert und Dreizack krachen gegeneinander. Das Netz des Juden fliegt durch die Luft und geht fehl. Staub verdüstert die Sicht. Die Hände der Zuschauer klammern sich an die Brüstungen der Sitze. Zurufe von den Tribünen ertönen. Der Maure stößt mit dem Kurzschwert zu; eine blutige Wunde klafft in der Brust des Juden. Beifall ertönt. Der verwundete Kämpfer richtet seinen Blick auf die Zuschauer und flieht vor die Kaisertribüne. Vom Pfeifen und den Schmährufen der Zuschauer verfolgt, läuft der Jude um sein Leben. Doch seine Kräfte schwinden schnell. Unerbittlich folgt ihm der Maure mit dem Schwert; in seinen Augen funkelt hell die Mordgier.
„Du wendest dich ab, mein Freund“, sagt Caligula zu Ptolemaeus, der neben ihm sitzt. „Gefallen dir die Spiele nicht?“
„Nein, Caligula“, antwortet der König und steht auf. „Mir ist dieses Morden zuwider. Ich möchte mir am liebsten die Ohren zuhalten, um das Mordgeschrei nicht zu hören. Ich kann diese verzerrten Gesichter nicht mehr sehen. Meine Seele weint. Diese Menschen sind blind in ihrem Herzen und sehen nicht. Sie sind leer in die Welt gekommen und leer suchen sie, die Welt zu verlassen. Nun aber sind sie trunken. Wenn sie nüchtern sind, werden sie bereuen.“
Caligula bricht in Gelächter aus.
„Du hast zu lange in Ägypten und Judäa gelebt, Ptolemaeus, und siehst Rom mit den Augen der griechischen Philosophen und pharisäischen Rabbiner. Für uns Römer haben diese Spiele eine Bedeutung, die du nicht verstehst.“
Ptolemaeus hat der Arena den Rücken gekehrt. Zorn und Abscheu sind ihm ins Gesicht geschrieben.
„Ich weiß nur, Caligula, dass an diesem Tag der Freude und des Jubels sinnlos Menschen getötet und Leid und Qualen bereitet werden. Du müsstest sehen, wie man in Ägypten und Judäa Feste feiert. Ich habe Sed-Feste in Alexandria und Pessach-Feste in Jerusalem erlebt, die mein Herz ergriffen haben.“
„Diese Spiele“, entgegnet Caligula selbstgefällig und deutet auf die Arena, „gewöhnen ein Volk von Soldaten an den Anblick des Todes, an Wunden und Blut. So bereiten wir Römer uns auf den Krieg vor.“
„Es ist eine neue Zeit angebrochen, Caligula“, sagt Ptolemaeus und blickt angewidert in die Arena hinunter.
Das Gespräch wird von einem empörten Aufschrei unterbrochen. Ein Sturm der Entrüstung über die Feigheit des unglücklichen Juden rast durch das Amphitheater.
„Maure, töte ihn! Maure, töte ihn!“, brüllen die Zuschauer im weiten Rund.
Fast vom Publikum vergessen haben die anderen Paare ihren Kampf beendet. Tote und Schwerverwundete liegen im eigenen Blut in der Arena. Die Aufmerksamkeit gilt fast ausschließlich dem Juden, der sich mit seiner Brustverletzung vor die Kaiserloge schleppt und den rechten Zeigefinger hochhält: ein Zeichen, mit dem er um Gnade fleht. Hinter ihm steht der Maure mit stolz erhobenem Schwert.
„Herodes Agrippa“, wendet sich Caligula an den jüdischen König, „bestimme du, was mit dem Juden geschehen soll!“
Herodes Agrippa erhebt sich von seinem Sitz und tritt an die Brüstung. Er kennt die Sprache der Arena: Der nach oben gereckte Daumen symbolisiert das gezückte Schwert und bedeutet Tod. Will er nicht den Zorn der Zuschauer auf sich ziehen, muss er das Todesurteil über den Juden fällen. Herodes will gerade seinen Arm ausstrecken, als Ptolemaeus ihn davon abhält. Mit gekreuzten Zeigefingern gibt er dem Mauren das Zeichen, dass er sein Schwert niederlegen soll. Dann verlässt er die Kaisertribüne und geht zu dem Juden auf die Sandbahn hinunter. Bevor dieser das Bewusstsein verliert, fängt ihn der mauretanische König auf und trägt ihn aus der Arena.
Der Zorn der Zuschauer richtet sich nun gegen Ptolemaeus, der sie um ihren Nervenkitzel gebracht hat. Die Schmährufe begleiten den mauretanischen König bis zum Ausgang des Amphitheaters. In diesem Augenblick verlässt auch Kaiser Caligula seine Loge.
Als Ptolemaeus mit dem Juden aus dem Tor ins Freie tritt und ihn in den Schatten eines Gehölzes legt, ist er bereits tot.
Während die Zuschauer aus dem Amphitheater strömen, um sich lärmend und randalierend in der Stadt zu verteilen, versammeln sich einige Angehörige der jüdischen Gesandtschaften aus Alexandria und Jerusalem im gemieteten Haus von Ptolemaeus am Forum Romanum. Auch Tiberius und sein Sohn Marcus aus dem ägyptischen Alexandria befinden sich in dem Haus des mauretanischen Königs. Während dicke Mauern und die geschlossenen Läden vor den Fenstern das Geschrei der Gasse fernhalten, verbreiten Lampen und Kerzen einen erstickenden Öldunst. Zwanglos stehen griechische Ruhebetten in dem Raum, davor kleine Marmor- und Ebenholztische. Das Deckengebälk wird von Säulen