Scrittura Segreta. Roman Odermatt
ihnen Hilfe und Schutz vor dem Unerbittlichen. Resigniert sieht er zur Öffnung der Kuppel hinauf, durch die der Himmel in die Halle zu stürzen scheint.
Plautius Pulcher führt die beiden Juden zur Zeugenbank, die neben der Rednerbühne im hinteren Teil des Pantheons aufgestellt worden ist. Die Vertreter des Senats und der Ritterschaft, die für den Gerichtsprozess abkommandiert worden sind, haben sich schon eingefunden. Seit Caligula die Kaiserkrone trägt, haben sie keine Macht mehr im Reich.
Ptolemaeus sitzt bereits auf der Anklagebank und blickt finster zu den beiden Juden hinüber. Marcus kauert verstohlen in einer Nische; er hält auf einem Wachstäfelchen das Geschehen fest.
Der Prätor Plautius Pulcher führt die Anklage: „Senatoren und Ritter, ihr wisst: Ich war viele Jahre in Judäa. Ich kenne das Land der Juden gut. In dieser Zeit hatten die Söhne des Herodes die römische Provinz unter sich aufgeteilt. Herodes Agrippa, der hier auf der Zeugenbank sitzt, erhebt schwere Vorwürfe gegen den Angeklagten Ptolemaeus, den König von Mauretanien. Er soll den Königsthron von Judäa unrechtmäßig für sich beanspruchen.“
„Er hat unser Volk aufgewiegelt“, ruft Herodes Agrippa dazwischen, „und er verbietet den Juden, dem göttlichen Kaiser die Steuern zu zahlen!“
Der Hohepriester meldet sich zu Wort: „In Jerusalem hörte man ihn sagen, er wolle den Tempel, der von Menschenhand geschaffen ist, niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand geschaffen ist. Er macht sich auch der Gotteslästerung schuldig, indem er sich als Sohn Gottes bezeichnet.“
Unter dem höhnischen Beifall der Zuschauer setzt sich der Hohepriester wieder …
„Senatoren und Ritter, hier auf der Anklagebank sitzt der Enkel des großen Marcus Antonius!“, wendet sich Plautius Pulcher an die Mitglieder des Gerichtshofs. „Senatoren und Ritter, hier auf der Anklagebank sitzt aber auch der Sohn von Iuba, den Iulius Caesar von Numidien nach Rom brachte und den Kaiser Augustus zum König von Mauretanien krönte. Ptolemaeus ist also einer von uns.“
„Auch der göttliche Kaiser Caligula spricht von Gotteslästerung“, ruft einer der Senatoren und lächelt spöttisch. „Willst du dich mit Caligula anlegen, Plautius? Wer glaubt denn noch in Rom an diesen Schwarm von Gottheiten, die aus den Bildhauerwerkstätten kommen? In Rom weiß man längst, dass es nur einen Gott gibt, nämlich Caligula!“
Die Mitglieder des Gerichtshofs brechen in Gelächter aus.
„Du irrst, Senator! Für das Volk ist der Himmel immer noch von den alten Göttern Roms oder von den Gespenstern der afrikanischen und asiatischen Geisterwelt bevölkert“, wendet Plautius Pulcher ein und blättert genervt in den vor ihm liegenden Akten der Geheimpolizei. „Trotz alledem, wir müssen zu einem Urteil gegen Ptolemaeus kommen.“
Plautius zieht aus dem Aktenstoß ein engbeschriebenes Pergamentblatt heraus.
„Aus den östlichen Provinzen wird gemeldet, dass sich die Juden geweigert haben, die üblichen Opfer und Gebete vor der Büste Caligulas zu verrichten“, liest der Prätor vor. „Die römischen Beamten geben die Schuld für diese Gotteslästerung diesem Mann, der hier auf der Anklagebank sitzt.“
Eine erwartungsvolle Stille breitet sich in der großen Halle aus.
„Du hörst, was sie alles gegen dich vorbringen, Ptolemaeus“, wendet sich Plautius Pulcher gereizt an den Angeklagten. „Ich frage dich also: Beanspruchst du den Königsthron von Judäa? Hast du die Juden aufgewiegelt? Bezeichnest du dich als Sohn Gottes?“
Ptolemaeus erhebt sich und schlägt mit der flachen Hand gegen die Bretterwand der Rednerbühne.
„Wo ist euer Stolz geblieben, Römer?“, ruft er in die Menge. „Eure Väter regierten einst von Rom aus die Welt! Was ist aus dieser stolzen Stadt geworden? Wer sich heute weigert, dem Kaiser Weihrauch zu streuen, wird zum Staatsgegner! Wer den Armen hilft, wird zum Feind des Volkes erklärt! Wer die Ungerechtigkeit in den Provinzen anprangert, wird ans Kreuz geschlagen!“
Mit unbewegtem Gesicht steht Plautius Pulcher auf der Rednerbühne.
„Das Bild der alten, der römischen Welt versinkt“, fährt Ptolemaeus fort, „und ein neues zieht gleich einem jungen Stern herauf. Die Menschen verändern sich in rasender Schnelligkeit. Die Völker suchen nach neuen Bildern der Götter. Wenn sich aber die alten Götter verdunkeln, so wankt die Ehrfurcht vor ihren Stellvertretern auf Erden, so löst sich die Angst vor den Menschengöttern.“
Plautius Pulcher steigt von der Rednerbühne herunter, tritt an Ptolemaeus heran und sieht ihn anklagend an.
„Bist du der König der Juden?“
Ein nervöses Zucken läuft über die gelblichen Züge des Prätors.
„Ich bin es“, antwortet Ptolemaeus gefasst.
Das Raunen, das durch die Halle geht, bricht plötzlich ab. Die Portale des Pantheons fliegen auf und Prätorianer marschieren mit klopfenden Schritten in die Halle. Wie aus dem Boden gewachsen, steht Caligula in der Mitte des Tempels. Die unerwartete Ankunft des Kaisers versetzt die Senatoren und Ritter in Schrecken. Keiner wagt es, zu ihm hinzutreten. Wie ein Standbild steht er da und starrt zur Kuppel empor. Ein Prätorianer überreicht ihm einen roten Mantel.
„Wo ist der König der Juden?“, gellt Caligulas Stimme durch die Halle.
Draußen bricht ein heftiges Sommergewitter los, aus den Wolken zucken Blitze wie weiße Schlangen, und der Regen fegt über die Dächer Roms.
Als Ptolemaeus, in den roten Mantel gehüllt, aus dem Pantheon tritt, erwarten ihn die Henkersknechte. Gefasst steht der König unter den Säulen des Portikus und blickt zum Himmel empor.
In einer Nebengasse im römischen Vorort Emporium sind Rufe und Schritte zu hören. Menschen laufen neugierig hinzu und spähen in das Halbdunkel der Gasse, von wo der Tumult kommt. Prätorianer umringen Marcus, der sich vergeblich bemüht, zu Wort zu kommen.
Endlich gelingt es dem Bedrängten, sich zu befreien. Doch die Prätorianer folgen ihm unnachgiebig; Schreie und zornige Drohungen hallen von den Hauswänden wider.
Als Marcus um eine Ecke biegt, wird er von einem großen Mann in den dunklen Eingang eines Hauses gezogen. Die beiden Männer stehen mit angehaltenem Atem nebeneinander. Mit Dolchen und Schwertern lärmt die Schar der Verfolger vorüber. Ein Glück! Niemand hat sie gesehen! Marcus wendet sich an seinen unbekannten Retter.
„Danke dir!“ Marcus tritt einen Schritt zurück und mustert sein Gegenüber vorsichtig. „Warum hast du das getan?“
„Es ist nicht edel, wenn viele einen Einzigen jagen!“, antwortet er zornig.
Kurz darauf stehen die beiden sich beim Schein einer Öllampe in einem ärmlichen Zimmer gegenüber. Auf dem Weg hierher konnte Marcus nur den Rücken des anderen Mannes sehen: Er sieht sich einem hochgewachsenen Römer gegenüber, dessen Gesichtszüge in kühnen Linien seine ausdrucksvollen Augen umfassen. Er trägt eine grüne Tunika mit kirschrotem Gürtel.
Mit einer Handbewegung bietet der Hausherr seinem Gast Platz auf einem Schemel an, er selbst setzt sich auf das Fensterbrett.
„Gehörst du zu den jüdischen Gesandtschaften aus Alexandria und Jerusalem?“, fragt der Römer geradeheraus.
„Ja, mein Name ist Marcus. Ich bin Jude. Eigentlich stamme ich aus Alexandria, aber ich kam mit König Herodes‘ Gesandtschaft nach Rom“, antwortet Marcus bereitwillig und nimmt auf dem Schemel Platz. „Hier ist es für uns Juden offenbar nicht mehr sicher. Darf ich deinen Namen erfahren?“
„Mein Name ist Petronius. Ich habe gehört, dass Caligula Jagd auf euch Juden machen lässt. Er hat es vor allem auf diejenigen abgesehen, die im Haus von König Ptolemaeus wohnten.“
„Ja, ich weiß“, seufzt Marcus. „Caligula hat unseren Meister Ptolemaeus ermorden lassen und trachtet jetzt auch uns nach dem Leben.“
„Komm zu mir!“, sagt Petronius zu Marcus und steht auf. „Ich besitze ein Landgut am Tiber.“