Scrittura Segreta. Roman Odermatt
scheint es nicht zu hören. Er steht am Fenster und blickt in die Ferne. Schließlich wendet er sich um: „Seine Heiligkeit hat nicht mehr die Kraft, an den Riten und Lehren der römisch-katholischen Kirche festzuhalten, die das Zweite Vatikanische Konzil aufgegeben hat. Er hat nicht mehr die Kraft, das Priestertum zu erneuern und die authentische katholische Lehre zu verbreiten und wiederherzustellen. Die vom Konzil geforderte Liturgiereform schreitet Jahr für Jahr voran, die Unauflöslichkeit der Ehe ist in Gefahr, und das Judentum als Heilsweg findet immer mehr Anerkennung.“ Kagba stützt sich schwerfällig auf die Fensterbank und blickt angespannt auf etwas, das sich auf der Straße abspielt. „Was hat Seine Heiligkeit gegen die vorehelichen und außerehelichen Beziehungen getan? Hat er etwas gegen den Vertrieb von empfängnisverhütenden Mitteln unternommen? Gotteslästerung, Homosexualität und Pornographie finden keine Strafen mehr in unserer Kirche.“ Er wendet sich wieder um; seine Augen funkeln. „Die Gewalt in Staat und Gesellschaft darf nicht mehr vom Volk ausgehen, sondern von Gott. An die Stelle der Parteien müssen wieder jene christlichen Männer treten, die sich durch sittliche Reife und Lebenserfahrung, durch Gerechtigkeitssinn und Sorge um das Gemeinwohl auszeichnen. Ich möchte offen reden. Seine Heiligkeit muss sein Gewissen vor Gott prüfen. Danach wird er zur Erkenntnis gelangen, dass seine Kräfte infolge seines vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“
„Du forderst den Rücktritt des Heiligen Vaters?“, fragt Badadilma und geht zur Tür. Er hört ein schabendes Geräusch auf dem Gang, über das er nicht näher nachdenken will.
„Seine Heiligkeit kann das Schifflein Petri nicht mehr steuern und das Evangelium nicht mehr im Sinne der Kurie verkünden.“
„Und die Gläubigen?“, hakt Badadilma nach und horcht an der Tür.
„Seine Heiligkeit wird selbst sagen, dass sowohl die Kraft seines Körpers als auch die Kraft seines Geistes in den vergangenen Monaten derart abgenommen haben, dass er sein Unvermögen anerkennen muss, den anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen. Die Gläubigen werden das verstehen.“
„Wann werden die Kardinäle mit dem Heiligen Vater darüber sprechen?“, bohrt Badadilma weiter. Er hört eine Tür auf- und wieder zugehen, dann Schritte.
„Der Zeitpunkt ist noch offen, an dem Seine Heiligkeit vor der Weltöffentlichkeit erklären wird, auf das Amt des Bischofs von Rom, des Nachfolgers Petri, zu verzichten“, kündigt Kagba an und macht einige Schritte auf das Bücherregal zu. „Die Kardinäle werden die Zeit nutzen, bis das Konklave zur Wahl des neuen Papstes zusammengerufen werden muss.“
Die beiden Padres treten gemeinsam ans Fenster und blicken über die Dächer von Rom, die in der Morgensonne glitzern.
„Die Kongregation für die Glaubenslehre“, sagt Kagba leise, „muss die Kirche vor den Häresien schützen. Über der Pforte dieses Hauses ließ Pius V. in eine Marmortafel einmeißeln: Dieses Haus wurde errichtet zum Kampf gegen die Häresie und zur Förderung der katholischen Religion. Das gilt heute mehr denn je.“
Auf dem Gang hören sie eine Tür zufallen.
5. Kapitel
Rom
7. Februar 2013
Vice Commissario Giacomo Casanova meldet sich in der Rechtsmedizin in der Viale Romania. Capitano Maria Farussi kommt ihm bereits auf dem Gang entgegen.
„Der Tote heißt Rasul Isa ibn Maryam, ein Algerier. Er arbeitete als Fremdenführer in einem Ort namens Sankt Gallen in der Schweiz“, sagt Farussi sachlich und tritt an den Kopierer.
„Und was hat die Obduktion bezüglich der Todesursache ergeben?“, hakt Casanova nach. Er ärgert sich über seine förmliche Frage.
„Der Algerier wurde erdrosselt.“ Maria scheint seine Unsicherheit nicht bemerkt zu haben. Sie legt ein Dokument auf die Glasplatte des Kopierers.
„Und wie genau?“, insistiert Casanova und drückt auf die Starttaste des Kopierers.
„Mit einem Hanfseil.“ Maria blickt Giacomo überrascht an. „In der Jacke des Toten haben wir übrigens ein Stück Papyrus gefunden. Zudem fanden wir eine Notiz über die Vatikanische Apostolische Bibliothek. Alles deutet darauf hin, dass der Algerier vor seinem Tod Kontakt mit dem Vatikan aufgenommen hat.“
6. Kapitel
Vatikanstadt
7. Februar 2013
Papst Benedikt XVI. steht an einem offenen Fenster im Vatikanischen Geheimarchiv und blickt in den Hof hinunter. Eine Lampe beleuchtet sein Gesicht von der Seite mit einem fahlen Schein. Er beugt sich über die Fensterbank. Der Kurienerzbischof steht noch an der Tür des Archivs.
Tonlos verkündet die Stimme des Papstes: „Hart liegt die Hand des Herrn auf uns.“
Eine Dirne wird im Hof von einem Mann angesprochen. Der Papst schließt verbittert das Fenster; stumm geht sein Blick zu einem Gemälde des Erzengels Michael, der Schwert und Schild über Rom und die Kirche hält. Er tritt vor das Bild, das neben dem Fenster an der Wand hängt, und steht eine Weile regungslos davor.
„Handelt es sich tatsächlich um das Geheime Markus-Evangelium, Eure Heiligkeit?“, fragt der Kurienerzbischof sichtlich bedrückt und faltet die Hände, als würde er beten.
„Ja, Eure Exzellenz.“ Benedikt winkt den Bischof zu sich heran und zeigt auf den Erzengel. „Er ist der Vorkämpfer Gottes, seiner Transzendenz und Macht. Michael kämpft, um die göttliche Gerechtigkeit wieder herzustellen. Er verteidigt das Volk Gottes vor seinen Feinden und vor allem vor seinem größten Feind, dem Teufel. Und der heilige Michael siegt, da in ihm Gott handelt.“ Der Papst greift in die Innentasche seiner weißen Soutane und holt einige Papierschnipsel heraus, betrachtet sie gedankenverloren und richtet seinen Blick wieder auf das Gemälde. „Dieses Bild vom Erzengel Michael, Eure Exzellenz, ruft uns in Erinnerung, dass das Böse besiegt ist. Der Ankläger ist entlarvt, sein Haupt zerdrückt, da sich das Heil ein für alle Mal im Blut Christi erfüllt hat.“ Ein Papierschnitzel gleitet dem Papst aus der Hand und segelt langsam auf den Boden. Ehrerbietig klaubt der Bischof das Schnipsel auf. „Auch wenn der Teufel immer versucht, das Antlitz des Erzengels und das Antlitz des Menschen zu zerkratzen“, fährt Benedikt fort, „ist Gott stärker. Sein ist der Sieg und sein Heil ist allen Menschen angeboten.“
„Auf dem Weg und in den Prüfungen des Lebens sind wir nicht allein, Eure Heiligkeit, sondern von den Engeln Gottes begleitet und getragen“, teilt der Kurienerzbischof den Schmerz des Heiligen Vaters und betrachtet demütig das Schnipsel, „die ihre Flügel anbieten, um uns zu helfen, die vielen Gefahren zu überwinden, um gegenüber jenen Wirklichkeiten in die Höhe fliegen zu können, die unser Leben belasten oder uns hinabziehen können.“
Vice Commissario Giacomo Casanova fährt mit seinem hellblauen Alfa Romeo Giulietta Sprint in Richtung Vatikanstadt. Vor ihm wälzt sich eine Blechlawine nach Sankt Peter. Alles drängt zum Petersplatz.
Casanova steuert den Wagen zum Palazzo del Tribunale e uffici Gendarmeria, der direkt hinter der Apsis des Petersdoms liegt. Auf der Piazza Santo Stefano drängen sich die Menschen. Rote Kardinalshüte und die Soutanen von Erzbischöfen schieben sich zur Piazza San Pietro hinüber. Schweizergardisten stehen auf dem Platz; aus den Gassen strömen die Pilger und Touristen heran. Die Offiziere haben alle Hände voll zu tun, mit den Gardisten Augenkontakt zu halten. Jubelnd brechen die Pilger und Touristen ins Ewige Rom ein.
Der Regen strömt in Stößen auf den Palazzo del Tribunale nieder. Nass klatscht das Banner des Vatikans an die Fahnenstange, die vor dem Palast steht, in dem Giacomo die Büros des Gendarmeriekorps der Vatikanstadt vermutet. Ein Vatikanischer Gendarm, der den Eingang bewacht, versperrt ihm den Weg. Mit der Dienstmarke der Polizia di Stato legitimiert sich Giacomo. Als er sieht, dass der Gendarm süffisant vor