Scrittura Segreta. Roman Odermatt
der Gemonischen Treppe zur Schau gestellt oder mit einem Haken die Treppe hinab durch die Stadt geschleift. Nach der Entehrung der Delinquenten werden die sterblichen Überreste regelmäßig in den Tiber geworfen, in dem sie hinab ins Tyrrhenische Meer treiben. Petronius will diese Demütigung verhindern. Am Abend führt er die Alexandriner zum Carcer Tullianus auf dem Forum Romanum, wo sie Ptolemaeus‘ Leichnam nach jüdischem Brauch in ein Tuch wickeln und in einen einfachen Sarg legen. In feierlichem Schritt bewegt sich der kleine Aufzug in der Abenddämmerung auf das Forum Romanum. Einige Passanten erhaschen einen letzten Blick auf den Sarg. Sie wundern sich über den abendlichen Leichenzug.
Philon und Marcus stehen auf dem Forum Romanum. Wenige Schritte vor ihnen öffnet sich ein kleiner schwarzer Schacht. Stumm beobachten sie die in weißes Linnen gekleideten Juden, die mit dem Sarg an ihnen vorbeiziehen. Marcus blickt zu Petronius hinüber, der ebenfalls vor der dunklen Pforte steht, durch die nun Ptolemaeus eingehen soll. Er vermag seinen Blick nicht von dem Grab zu wenden, in das der Sarg mit Seilen heruntergelassen wird. Hammerschläge und gedämpfte Rufe hallen aus dem Schacht, wo die Juden den Sarg verschließen. Danach steigen sie aus dem Schacht herauf, treten an die Seilzüge, an denen der Lapis Niger, der Schwarze Stein, hängt, und lassen die schwere Marmorplatte fast lautlos in die Tiefe herab.
Ptolemaeus ist nun mit seinen Ahnen im Tod vereint.
Drei Tage liegt die Bireme am Tiberkai, bevor Petronius mit den Juden an Bord geht. Es ist Petronius, Marcus und Philon nicht gelungen, Tiberius freizubekommen. Noch während der Kapitän den Anker lichten lässt, herrscht in der Stadt eine große Aufregung. Frauen haben das Grab des Ptolemaeus leer vorgefunden, der Schwarze Stein ist entfernt worden.
Am Abend des ersten Tages erreicht der Zweiruderer Antium, am zweiten Tag Kap Gaeta und Formiae, die Hafenstadt an der Via Appia. Hier halten sich Petronius und die Juden einen Tag in einer alten römischen Villa auf. Am Abend lichtet der Kapitän wieder den Anker und läuft aus. Landmarken und Gestirne bestimmen den Kurs der Bireme. In einer mondhellen Nacht kreuzt das Ruderkriegsschiff die Höhe von Volturno. Die Reisenden erkennen deutlich die in der Mündung des Flusses liegenden Frachtkähne. Man hört den klirrenden Schritt der Posten, die die Kriegssklaven bewachen.
Stunden später tauchen die dunklen Schatten einiger Inseln vor dem Bug des Zweiruderers auf, links davon schiebt sich Kap Misenum ins Gesichtsfeld. Es beginnt schon zu dämmern, als der Kapitän das Vorgebirge kreuzt und in die Bucht einbiegt.
Tage später gleitet die Bireme über klaffende Tiefen, über Schlunde und Kuppen dahin. Nichts sieht man vom römischen Todesreich Hades oder der jüdischen Schlucht von Hinnom, die der Sage nach vom Tyrrhenischen Meer bedeckt sind. Die zerbrechliche Schale des Schiffes ritzt gerade einmal die Haut der See, das verletzliche Menschenleben, das sich darin befindet, ahnt nur dunkel, über welcher Unterwelt es schwebt. Über dem Schiff wölbt sich der Götterhimmel der Römer; Wolken treiben dahin und geben manchmal den Blick frei ins himmelblaue Paradies der Juden. Petronius liegt unter dem weißen Sonnensegel an Deck der Bireme. Er ahnt nicht, dass im Bauch seines Schiffes der einbalsamierte Leichnam des mauretanischen Königs Ptolemaeus liegt. Die Juden haben ihn in der Nacht vor der Abreise heimlich an Bord gebracht.
Aus der Tiefe des Mitteldecks tönt das Pochen der Paukatores, das Ächzen der Ruder und das Keuchen der Sklaven. An der Schiffsflanke rauschen die Wogen, und über das schlaffe lateinische Segel ziehen kreischende Möwen.
Das Meer hier in Griechenland ist mit grünweißen Inseln bedeckt. Hinter jeder Durchfahrt tauchen neue Eilande auf. Es ist, als habe das Land ein weitmaschiges Netz über das ägäische Meer geworfen.
Marcus‘ Gedanken fliegen dem Schiff voraus. Was ist das für eine seltsame Faszination, die von diesem mauretanischen König Ptolemaeus ausgeht, den die Römer getötet haben? Warum wandern seine Gedanken immer wieder zu jenem Mann, der sich in Rom und in den Provinzen für die Armen eingesetzt hat? Marcus schließt die Augen, wie Schemen jagen sich die Bilder seiner Erinnerung.
1. Kapitel
Castel Gandolfo
7. Februar 2013
Giacomo Casanovas Blick verharrt einen Augenblick auf dem Bild des Lituusstabs, dem Krummstab der Päpste, auf dem nackten Po seiner ehemaligen Klassenkameradin Lucrezia. Er zögert kurz. Er sieht die Tätowierung nämlich zum ersten Mal, obwohl sie es die ganze Nacht miteinander getrieben haben.
Lucrezia zieht ihn ins Bett zurück und steigert sich in einen wahren Liebesrausch. Sie versucht, ihn in die Kissen zu drücken, was sein Feuer erneut entfacht.
Giacomo zieht seine Uniform an. Er blickt in die Spiegelwand im Kleiderschrank, der neben dem Bett steht: Schulterstücke und Schirmmütze zeigen zwei strahlende Sterne und das Abzeichen der Polizia di Stato. Er schwitzt. Der gestickte Uniformkragen schnürt ihn ein. Er fummelt an seinem Krawattenknoten.
Was für ein Morgen!
Der Polizeikommissar tritt dicht an den Spiegel. Er empfindet sein Gesicht als zu käsig: Es ist ein Gesicht wie geronnene Milch. Schnäpse und Wein und mangelnder Schlaf gären in seinem Blut, klopfen ihm gegen den Schädel. Das Klassentreffen auf dem Rand der Caldera eines erloschenen Vulkans, in der Altstadt von Castel Gandolfo, wirkt noch nach.
Es ist das Gesicht eines alten Mannes, denkt Giacomo und fühlt sich auf unangenehme Weise daran erinnert, dass sein junger Geist in einer alten Hülle steckt. Mit den grauen Strähnen in seinem Haar, seinen durchdringenden schwarzen Augen und seiner dunklen Stimme vermag der sechsundfünfzigjährige Vice Commissario seine weiblichen Kolleginnen jedoch noch immer zu fesseln. Giacomo war nie verheiratet und hat keine Kinder. Er ist ganz froh, dass das bei ihm der Fall ist, denn viele seiner Freunde endeten in langweiligen Ehen mit unattraktiven Frauen. Manchmal wünscht er sich zwar, in einer festen Partnerschaft zu leben, mit der Sicherheit, die diese mit sich bringt. Aber je älter er wird, desto geringer wird sein Wunsch nach einer Ehefrau.
Vor zwei Monaten hat er seine kleine Heimatstadt Castel Gandolfo verlassen und ist nach Rom gezogen. In der Polizia di Stato steht er als Vice Commissario auf der untersten Stufe der Karriereleiter.
Während Giacomo ungeduldig seinen Krawattenknoten in die richtige Form zu bringen versucht, betrachtet er durch den Spiegel Lucrezia Metastasio, die es zu großen Erfolgen gebracht hat, obwohl sie aus schwierigen Verhältnissen kam. Seit Jahren führt sie ein SM-Studio in Castel Gandolfo. Jetzt liegt sie jedoch erschöpft im Bett. Die frühere Klassenkameradin scheint zu schlafen. Ihre Haare sind zerzaust.
„Was ist? Gehst du schon?“, fragt sie mit noch immer geschlossenen Augen.
„Ich muss!“
„Na, wie war ich?“, witzelt sie und öffnet jetzt die Augen.
Giacomo weiß nicht, was er sagen soll. Eigentlich ist er verlegen.
„Dreckskerl!“, gurrt sie. „Du hast deine Rolle als mein Sklave hervorragend gespielt, Giacomo.“
Er rückt seine Schirmmütze zurecht und blickt auf den Stuhl, auf dem Lucrezia die Peitsche und den Umschnalldildo abgelegt hat.
„Gespielt?“, fragt er und verzieht sein Gesicht zu einem hilflosen Grinsen.
Das iPhone meldet sich. Im gleichen Augenblick steigt eine neue Welle von Übelkeit in ihm hoch. Ungläubig starrt er auf die Buchstaben:
Mord im Carcer Tullianus auf dem Forum Romanum
Die E-Mail kommt von seinem Chef, dem leitenden Polizeidirektor der Polizia di Stato, Dr. Antonio Gozzi.
2. Kapitel
Vatikanstadt
7. Februar 2013
„Himmelherrgottsakra!“, entfährt es Papst Benedikt XVI., als er direkt in diesen Absperrpfosten