Scrittura Segreta. Roman Odermatt
Räuber der Campania, sie lässt sich nach Einbruch der Dunkelheit dort nicht mehr sehen.“
„Warum tust du das für mich?“, fragt Marcus und erhebt sich vom Schemel.
„Ich habe viele jüdische Freunde in Palästina und Syrien. Auch wenn ich Römer bin, so kann ich das Blutbad, das der Wahnsinnige anrichtet, nicht gutheißen.“
Petronius klatscht mit den Zügeln auf die Pferderücken und lenkt das Gespann zu einem Landgut, das kaum einen Steinwurf neben dem Tiber liegt. Es ist ein aus weißen Quadern errichteter und mit Holzschindeln gedeckter Bau.
Als Petronius im Schritt in den Hof fährt, laufen ihm römische Legionäre entgegen und fassen die Rösser am Kopfgeschirr. Marcus beobachtet die Soldaten mit Argusaugen.
„Das sind meine Legionäre.“ Petronius lächelt, als er Marcus‘ Unsicherheit bemerkt. „Hier auf meinem Landgut bist du vorerst sicher vor den Schergen des Kaisers.“
Petronius übergibt die Zügel einem der Soldaten und steigt vom Wagen. Marcus folgt ihm wortlos.
Die beiden Männer betreten das Atrium, den zentralen Raum des Hauses.
Die Wände sind vom Rauch des Herdes schwarz gefärbt. Durch eine breite Öffnung der Balkendecke fällt Licht ein und erhellt den düsteren Raum.
Marcus ist immer von neuem überrascht von den ärmlichen Landgütern in Rom. Der Fußboden ist aus gestampftem Lehm, die Wände sind mit Kalkmörtel beworfen worden, und die Decke besteht aus einer Lage roher, über klobige Balken gelegter Bretter.
Mitten im Empfangsraum steht der gemauerte Herd, auf dem ständig die Holzscheite glimmen.
Petronius durchschreitet mit seinem Gast das Atrium und begibt sich in das Innere des Wohnhauses, dessen Räume sich aneinanderreihen. Hier kommt das Licht durch Fensteröffnungen, die abends mit Steinplatten verschlossen werden. Der einzige Schmuck besteht aus den gewebten Teppichen vor den Türöffnungen.
An einem Tisch sitzt Philon. Er umarmt seinen Neffen Marcus herzlich.
„Philon! Welch freudige Überraschung!“
„Es freut mich auch, dich wohlbehalten vorzufinden. Wir waren sehr besorgt um dich.“
„Wo ist mein Vater?“, fragt Marcus seinen Onkel sofort.
„Er wird von Caligula gefangen gehalten. Gott sei Dank, dass wenigstens du den Schergen des Kaisers entkommen bist, Marcus.“
„Das verdanke ich Petronius.“
Legionäre tragen einen Weinkrug, Becher und ein Wassergefäß herein. Petronius schenkt ein, vermischt den Wein mit Wasser und trinkt seinen Gästen zu.
„Auf unsere Gesundheit!“
„Darauf, dass wir den Häschern entgangen sind!“
Auf ein Zeichen des Römers bringt einer der Legionäre einen hölzernen Krummstab an den Tisch. Neugierig betrachten die Gäste den Stab.
„Das ist ein Lituusstab“, erklärt Petronius den beiden Juden. „Zur Zeit unserer etruskischen Vorfahren war er die Insignie der römischen Könige. Auch eure Pharaonen führten diesen Krummstab als Zeichen ihrer göttlichen Macht mit sich. Kaiser Augustus überreichte mir den Lituusstab, nachdem ich ins Augurenkollegium aufgenommen worden war. Aus dem Flug der Vögel hat unser Kollegium beim Augurium zu ergründen versucht, ob das Todesurteil des Gerichtshofs gegen Ptolemaeus den Göttern genehm sei. Sie haben uns ihre Entscheidung mitgeteilt: Es ist nicht ihr Wille, dass Ptolemaeus sterben musste. Caligula missachtete den Götterwillen und ließ Ptolemaeus im Carcer Tullianus töten. Es ist ein großes Unrecht geschehen. Wir haben die Götter erzürnt.“
Petronius fährt sich durch die Haare und seufzt. „Jetzt schickt mich Caligula als Statthalter wieder in die Provinz Syrien zurück. Ich soll im Jahwe-Tempel in Jerusalem eine Statue Caligulas aufstellen. Ich befürchte, das wird Ärger mit den Juden geben. Ihr könntet mich begleiten, wenn ich nach Syrien segle.“
Philon nimmt den Krummstab in die Hand und betrachtet ihn lange.
„Ich habe in Alexandria gehört“, sagt er, „wie ihr Römer mit Gewalt gegen die Juden in Judäa vorgeht!“
Da Petronius nicht antwortet, erfasst Philon seinen Arm: „Was seid ihr doch für Ungeheuer, ihr Römer!“
Petronius lächelt, aber es liegt ein Unterton von Ohnmacht in seiner Stimme, als er sagt: „Durch meine Hand wird kein Jude mehr sein Leben verlieren.“
Der Statthalter von Syrien verharrt einen Augenblick in Gedanken, dann fährt er fort: „Noch kann ich hier in Rom für euch Juden nichts machen! Nichts als euch beiden die Überfahrt nach Syrien anzubieten. Aber lasst uns draußen weiterreden; die Luft am Tiber ist klar und erfrischend wie sein Wasser.“
Petronius erhebt sich und führt seine Gäste durch den Innenhof in den ummauerten Garten hinter dem Landhaus. Es ist angenehm kühl hier, und wenn alles ganz still ist, vernimmt man das Zwitschern der Vögel, die im Laubdach über dem Haus nisten. Am Eingang steht ein mächtiger Ahornbaum, der seine Zweige über die weiße Gartenmauer reckt.
„Ihr fragt euch“, setzt der Römer das Gespräch fort, „warum wir Auguren nichts gegen Caligula unternehmen können.“ Er deutet auf den Fluss zu seiner Rechten und fährt fort: „Seht den Tiber! Weich schmiegt er sich an die Ufer, folgt jeder Biegung; den Felsen weicht er in Ehrfurcht aus und scheut sich nicht, einen Umweg zu machen. So wie der Tiber ist auch Caligula. In den ersten Monaten seiner Regentschaft machte sich der Kaiser beliebt, er beschloss Steuersenkungen, setzte Hochverratsprozesse aus und gewährte den bereits mit der Verbannung bestraften Senatoren die Rückkehr. Der Prätorianergarde ließ er ein Geldgeschenk zukommen und die Gunst des Volkes erkaufte er sich mit Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe. Wie ein Bergbach nach einem Gewitterregen anschwillt und alles mitreißt, was sich ihm in den Weg stellt, so erfolgte auch Caligulas radikaler Regierungswechsel. Wer sich ihm in den Weg stellte oder wer ihn kritisierte, ließ er ermorden. ‚Sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten‘, sagte er mir.“
Die Augenpaare des Römers und der Juden folgen dem Lauf des Flusses; Schweigen herrscht zwischen den Männern. Aus den Ställen kommt das Schnauben und Stampfen der Rösser.
Gedankenvoll erhebt sich Petronius und geht einige Schritte bergab zu dem kleinen Felsvorsprung, der wie eine Kanzel über das Flusstal hinausragt.
Die Sonne ist schon fast hinter den fernen Hügeln verschwunden.
Was werden die Götter unternehmen, deren Willen so schändlich missachtet worden ist?
Der Augur schaut über das Land und klammert sich an seinen Krummstab.
Schwarz und drohend liegt der Fluss vor ihm. Eine Abteilung römischer Legionäre marschiert an seinem Ufer, die Schatten verschwimmen im aufziehenden Dunkel des Abends. Schließlich dreht sich Petronius fröstelnd um und geht zum Haus zurück.
Die alexandrinischen Juden befinden sich bereits an Bord der Bireme, die Petronius zum Truppenlager in der galiläischen Hafenstadt Ptolemais bringen soll. Die jüdische Gesandtschaft in Rom ist gescheitert; Kaiser Caligula hat die Alexandriner versetzt, verraten und lässt Jagd auf sie machen. Die Zeit drängt.
Allerdings verzögert sich die Abreise, da Tiberius, der Vater von Marcus, noch immer von Caligula gefangen gehalten wird.
Marcus denkt an seine Braut Berenike. Sie ist die Tochter von König Herodes Agrippa. Schon vor der Reise nach Rom hatte sein Vater Tiberius als Oberhaupt der Familie mit dem Vater der Braut ihre Aussteuer festgesetzt und die Verlobung zwischen ihm und der dreizehnjährigen Berenike bekanntgegeben. Sie waren sich in Jerusalem zum ersten Mal begegnet. Sie wussten, dass Ehen in ihren Familien nicht durch persönliche Leidenschaften oder Liebe bestimmt werden.
Berenike erhielt den üblichen Goldring als Zeichen der Verlobung. Aufgrund der bevorstehenden Reise nach Rom wurde die Hochzeit jedoch verschoben.
Petronius lässt sich noch am selben