Scrittura Segreta. Roman Odermatt
Mann, der die kleine Versammlung einberufen hat, der Philosoph Philon von Alexandria, geht mit großen Schritten zwischen den Ruhebetten auf und ab.
„In Rom gibt es keine Moral mehr“, schimpft er. „Kein Götterglaube hindert die Reichen und Mächtigen, sich gegen alle Gesetze des Himmels und der Erde zu vergehen. Ein wahnsinniger Kaiser steht an der Spitze dieser Gesellschaft, die ein Leben der Sünde und Sittenlosigkeit führt.“
„In den drei Jahren der Regierung Caligulas“, sagt sein Bruder Tiberius mit verbitterter Miene, „hat Rom sein einst so holdes Gesicht in eine scheußliche Fratze verwandelt. In früheren Jahren war das Imperium gesittet und gut verwaltet. In allen Städten sah man Altäre, weiß gekleidete Priester, Pferde- und Wagenrennen und musische Wettkämpfe. Jetzt aber ist Rom ein Blutegel, der den Ländern und Provinzen das Blut aussaugt, um das eigene unheilige Leben zu verlängern.“
Tiberius‘ Sohn Marcus wiegt das Haupt und streckt die Hand abwehrend aus.
„Sei vorsichtig mit derartigen Äußerungen, Vater! Die Spitzel des Kaisers sind sehr hellhörig. Aber dein Urteil ist richtig. Was soll man von einem Kaiser erwarten, der für ein einziges Gastmahl eine Million Sesterzen ausgibt? Für jede Narrheit hat Caligula Geld in Fülle. Einem Wagenlenker, der mit seinem Gespann gewann, schenkte Caligula einmal zwei Millionen Sesterzen. Das siegreiche Rennpferd wollte er im vergangenen Jahr allen Ernstes zum römischen Konsul wählen lassen. Der Gaul frisst aus vergoldeter Krippe, steht auf elfenbeinernem Rost, trägt juwelengeschmückte Purpurdecken und hat seinen eigenen Palast.“
Marcus erhebt sich von seinem Ruhebett, rauft sich die Haare und wendet sich an Philon, der in seinem Rundgang innegehalten hat: „Schau nicht so ungläubig, Philon, so ist Caligula! Nichts von dem, was ich erzähle, ist übertrieben. Caligula liebt es, Blut zu vergießen. Häufig sieht er bei Folterungen zu, bei seinen Gastmählern lässt er manchmal Sklaven verstümmeln, töten oder blenden. Dabei verfolgt er mit seltsamer Spannung die Tätigkeit des Henkers. Seinem Schwiegervater befahl er, sich selbst mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden, weil sich der alte Mann bei einem Seesturm geweigert hatte, ein Schiff zu besteigen. Den Gardepräfekten, der ihm auf den Thron geholfen hatte, ließ er erwürgen. Um ihm nicht dankbar sein zu müssen!“
Philon bedeckt mit den Händen sein Gesicht.
„Das ist ja noch grässlicher, als ich ahnte“, stöhnt er. „Und solch einen Mann erträgt Rom?“
„Rom ist wahnsinnig!“, antwortet Marcus. „Es besteht nur noch aus dem Pöbel und ein paar anständigen Menschen, die in ständiger Furcht leben und glücklich sind, wenn man sie unbehelligt lässt. Caligula unterhält die Masse mit immer neuen Aufregungen und Sensationen. Gefährlich wird er nur seinen Höflingen, dem Volk schmeichelt er.“
Als müsse er Halt finden, umfasst Marcus mit beiden Händen eine der Säulen, wo sich das Licht der Öllampen und Kerzen auf dem gelben Marmor spiegelt.
„Der Anlass“, fährt er fort, „der euch hergeführt hat, wurde ebenfalls durch den kaiserlichen Wahnsinn verursacht. Zuerst wurde seine verstorbene Schwester vergöttlicht, dann machte er sich selbst zum Gott, und nun verlangt er, zum höchsten der Götter, zum Jupiter Latiaris, erklärt zu werden. Im Tempel des Kapitols ließ er sein eigenes Standbild aus reinem Gold aufstellen, das täglich in ein Gewand gehüllt wird. Es ist dieselbe Art und das gleiche Gewand, wie es der Kaiser an diesem Tag trägt.“
Es ist ganz still geworden in dem Raum. Die Worte Marcus‘ sind nicht ohne Eindruck geblieben. Seit er in Rom ist, hat er begonnen, die Ereignisse aufzuschreiben, daher vermag er derart überzeugend aufzutreten.
Die Juden schauen zum Eingang hinüber, durch den Ptolemaeus den Raum betritt. Er kehrt vom Amphitheater zurück. Die Männer mustern ihn. Ptolemaeus ist vierundvierzig Jahre alt. Seine ganze Erscheinung strahlt eine wohltuende Ruhe und Gelassenheit aus.
Eine jüdische Dienerin erscheint, kniet nieder und bietet dem König ein kupfernes Becken mit duftendem Wasser an, damit er sich vor Beginn des Essens die rechte Hand wasche, mit der die Speisen berührt werden. Eine zweite Magd bereitet ein Fußbad und sprengt duftendes Öl auf die Kissen. Doch Ptolemaeus bedeutet den beiden Frauen, dass er nichts essen wolle und auch kein Fußbad wünsche. Stattdessen setzt er sich auf ein Kissen und verschränkt wortlos die Arme vor der Brust. Er kennt die Juden, die jetzt in Rom weilen, von seinen Reisen nach Alexandria und Jerusalem.
„Meine Freunde“, sagt Philon mit ruhiger Stimme, „ihr wisst, warum wir nach Rom gekommen sind. Ihr kennt alle das Dekret des Kaisers Caligula, das uns befiehlt, eine Büste seiner selbst in allen Tempeln und Bethäusern aufzustellen und dieser Büste Opfer darzubringen.“
„Gott Caligula“, höhnt sein Bruder Tiberius.
Philon macht eine ärgerliche Handbewegung, dann fährt er fort: „Viele Völker sind dem Befehl des Kaisers widerspruchslos nachgekommen. Doch wir werden Caligulas Büste in unseren Synagogen oder gar im Tempel von Jerusalem nicht verehren!“
„Vergiss nicht“, knurrt Marcus und schlägt mit der Faust auf die Marmorsäule, „dass Gesandte der griechischen und römischen Kaufherren aus Alexandria auch hier in Rom sind. Sie werden versuchen, diese Gotteslästerung zu benutzen, um uns, ihre Konkurrenten, mit einem Schlag zu beseitigen, indem sie Caligula zu strengen Strafmaßnahmen gegen uns auffordern.“
„Ich dachte, diese Kaufherren befänden sich im Gefolge deines Freundes Herodes Agrippa?“, fügt Philon trocken hinzu.
Von draußen dringt gedämpft das Geschrei der Volksmenge ein.
„Vor der Reise nach Rom habe ich mich oft mit meinem zukünftigen Schwiegervater Herodes Agrippa im Palast getroffen, um über die zu unternehmenden Schritte zu beraten“, sagt Marcus, der seit Monaten im Gefolge Herodes in Rom weilt. „Ich kenne die Verhältnisse in Rom und am Kaiserhof und bin, nachdem ich von dem Anlass eurer Bittgesandtschaft gehört habe, bereit, euch zu helfen. Eure Empfehlungsbriefe habe ich Caligula bereits übergeben lassen.“
„Wir sind dir sehr dankbar für deine Vermittlung, Marcus“, sagt Philon, der an ein Fenster getreten ist, den Laden zur Seite schiebt und auf die Gasse blickt, „aber je mehr ich von dieser Stadt und ihrem Kaiser sehe, desto weniger glaube ich an einen Erfolg unserer Mission.“
„Bist du nicht auch der Meinung, Ptolemaeus“, fragt Marcus den mauretanischen König, „dass es uns angesichts dieses frevlerischen Gottwahnsinns Caligulas kaum gelingen wird, die Schändung unserer Bethäuser zu verhindern?“
„Ihr sollt nicht aufhören, einen Weg zu suchen, bis ihr ihn findet“, antwortet Ptolemaeus, „und wenn ihr ihn gefunden habt, werdet ihr vielleicht erschrocken sein, wohin er euch führt.“
„Gib uns einen Rat, Ptolemaeus“, bittet Philon. „Wie können wir vor dem Kaiser bestehen? Du kennst den Kaiser, er hört auf dich.“
„Ihr denkt wohl, dass ich gekommen bin, um Frieden in die Welt zu bringen. Ihr wisst nicht, dass ich gekommen bin, um Feuer, Schwert und Krieg zu bringen.“
Die Juden blicken besorgt zum geöffneten Fenster, ob kein Unberufener horche. Philon bemerkt die Blicke der Männer und zieht verlegen den Laden wieder vor das Fenster.
„Du willst dich gegen den Kaiser erheben, Ptolemaeus?“, flüstert Marcus.
Ptolemaeus sieht ihn lange an. „Erkenne, was vor dir ist, und was dir verborgen ist, wird dir enthüllt werden. Denn es gibt nichts Verborgenes, was nicht offenbar werden wird.“
Ptolemaeus begibt sich am nächsten Tag mit den Juden aus Alexandria und Jerusalem in die weitläufigen Garten- und Bauanlagen, die das Palatinische Schloss mit dem ehemaligen Park des Maecenas verbindet. Philon hat mit Callistus, einem einflussreichen Mann am Kaiserhof, vereinbart, dass sich Caligula, Ptolemaeus und die Juden hier in den Gartenanlagen treffen.
Jetzt warten sie bang auf Caligulas Ankunft. Die Zeit verstreicht. Sie werden ungeduldig. Schließlich schickt Ptolemaeus Tiberius an den Kaiserhof.
Am Abend, als Ptolemaeus und die Juden in der Halle eines nahe gelegenen Prunkbaus sitzen, fragt Marcus den