Das Erbe. Helmut H. Schulz
Willich, der Bernhard ist jetzt soweit, er will Maurer lernen.
Und da kommen Sie zu mir? Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich den Betrieb noch behalten darf? Einem anderen was wegnehmen ist noch immer die leichteste Art, zu was zu kommen. Geben Sie den Jungen lieber in so einen volkseigenen Saftladen.
Wenn es mal anders kommt, Herr Willich?
Ja, wenn. Es kann lange, sehr lange dauern, bis es soweit ist.
Da können wir alt und grau werden. Man hofft ja immer. Die ruinieren ja alles. Wenn es wirklich mal anders kommt, Gallas, soviel Bäume gibt es gar nicht und soviel Stricke. Da will ich dabei sein, da mach ich mit.
Wird auch nötig sein. Was mach ich denn nun? Die Zeugnisse von dem Jungen sind nicht gerade besonders, Herr Willich.
Ach, Zeugnisse, arbeiten soll er, ein tüchtiger Kerl werden, ein Fachmann. Haben wir denn all die Jahre schlecht gebaut? Sagen Sie, Gallas, sind unsere Häuser schlecht? Na, sehen Sie. Ich habe ja keine Lehrlinge mehr, ich bau hier ein bißchen ab; ich kann es Ihnen nicht so erklären. Nicht auffallen, denke ich. Hier lernt er was, hier lernt er noch einen sauberen Verband mauern, Fugen, eine wie die andere. Sehen Sie sich doch mal an, was die heute hochklatschen. Wird ein Brettchen gebraucht, zerschneidet man eben eine Bohle, kostet ja nischt. - Na gut, um mal zum Ende zu kommen, ich werde Ihren Jungen nehmen. Ich mache Ihnen den Lehrvertrag fertig, kommen Sie bei Gelegenheit vorbei.
Bernhard Gallas beginnt zu lernen, aber sein soziales Erbe macht sich bemerkbar; wie gute und schlechte Maurerarbeit aussieht, hat Bernhard vom Vater und den Brüdern schon vor Jahren abgeguckt. Er schwankte auch nie, ein anderer Beruf kam nicht in Betracht. Kurz vor Ende der Lehrzeit gibt der Lehrherr seinen Betrieb auf, das heißt, er setzt sich ab. Ein Treuhänder übernimmt den Baubetrieb. Für Bernhard ändert sich nichts, er legt ordentlich die Gesellenprüfung ab, besteht sie mit sehr gut. Danach kündigt er. Manchmal treffen sich die drei Brüder im Hause des alten Gallas. Da brechen die Gegensätze auf.
Herr Willich hat drüben in Westberlin wieder einen Baubetrieb, ich soll zu ihm, was soll ich machen?
Hör mal, Boy, mach das nicht. Ich kann dir nicht mal sagen, warum du es nicht machen sollst, ich bin bloß der Meinung, man geht irgendwie vor die Hunde, mich erinnert das immer ein bißchen an Amerika, aufgeblasen, großschnauzig, immer ein großes leeres Haus, ich weiß nicht.
Bernhard ahnt wohl, daß der Große, den er stets bewunderte, eine Menge erlebt hat, aber er will seinen eigenen Weg gehen. Quatsch mir nicht rein, ich mach, was ich will.
Der Einarmige: Du, mir gefällst du schon lange nicht mehr, Kleener. Ich kenne doch Willich, wir haben doch alle da gelernt. Du bist nichts Besonderes, Kleener, bloß ein einfacher Maurer, vielleicht ein guter, aber in deinem Kopf sieht es schlimm aus, du siehst nur Geld, kennst nur den Augenblick.
Der alte Gallas: Wenn es mal anders kommt?
Der Einarmige: Mensch, Vater, es kommt nicht anders, und ich frage dich, was willst du denn? Willst du die Nazis wiederhaben? Und was heißt, es kommt anders? Anders kommen heißt Krieg. Ich hab einen Arm verloren, mir reicht das. Mach den Kleenen nicht verrückt.
Richtig, Boy. Vater, überleg mal, war das früher wirklich so schön? Wir sind einfache Leute, uns geht es überall beschissen, mit uns machen sie immer, was sie wollen.
Der alte Gallas: Nun will ich euch mal was sagen, ihr Schlauberger, ich weiß längst, was die Glocke geschlagen hat. Du, zu dem Einarmigen, kriechst den Iwans hinten rein, mit deiner Neubauernstelle. Jetzt machen sie ihre Kolchosen. Paß nur auf, dich kriegen sie auch noch, dann war alles Schindern umsonst, dann stehst du da. Dann komm nicht zu mir und jammre. Und du, zu dem Ami, du spielst dich auf als Brigadier. Brigadier, russische Moden, wenn ich das schon höre. Du fällst auch noch auf die Schnauze, immer schrubbe, du kriegst die Quittung.
Ungewiß ist die Zukunft, sie spüren es.
Denkt mal an letzten Sommer, sagt der alte Gallas, da hat es doch an einem Haar gehangen, nicht wahr, dreiundfuffzich, beinahe. Was wär denn passiert, wenn die Iwans nicht mit den Panzern nach Berlin gekommen wären? Nee, noch weiß keiner, wie das ausgehen wird, Jungens. Und ich will euch noch was sagen, es waren Bauarbeiter, die gestreikt haben. Darauf bin ich stolz.
Du, stolz? Du bist doch nie organisiert gewesen, Gewerkschafter sind für dich immer so was wie Zuchthäusler gewesen. Jetzt spielst du dich auf? Daß ich nicht lache. Herr Willich vorne, Herr Willich hinten, den hast du am Arsch geleckt, nee, Boy.
Nu reicht es.
Mir auch, Vater, hören wir auf.
Der Bauarbeiter Bernhard Gallas fährt ab vierundfünfzig täglich mit dem Rad bis zur Kreisstadt. Dort beginnt die Vorortbahn, er fährt zu Willich. Er verdient viel, sehr viel, wechselt den Anteil Westmark seines Lohnes in einer Wechselstube in Ostmark um, er kauft Sachen, kauft ein Motorrad, kauft ein Auto, gebraucht, ein Vorkriegsmodell, Adler Junior, denkt noch nicht daran, ein eigenes Haus zu bauen, denkt noch nicht ans Heiraten, wechselt oft die Freundin. Das Leben ist so bequem, er wohnt zu Hause. Mit den Brüdern trifft er sich kaum noch. Dann überrascht ihn der 13. August, ein Sonntag, an dem er spät aufsteht, im Garten herumläuft, frühstückt, schließlich das Radio anstellt. Die Grenzen sind geschlossen. Der junge Gallas packt seinen Rucksack: Ich werde schon noch durchkommen.
Der alte Gallas, schwer in Sorge: Die Hunde schießen, mein Junge, paß auf dich auf, komm lieber zurück, falls alles dicht ist. Schreib sofort, wenn es geklappt hat, vielleicht sehen wir uns nicht mehr wieder. Was für ein Leben!
Auf dem Bahnhof der Vorortbahn stehen Soldaten und Kampfgruppenleute.
Sie da, kommen Sie mal näher. Ihren Ausweis.
Was ist denn los?
Stellen Sie sich nicht dumm, Sie wissen doch Bescheid. Wohin wollen Sie fahren?
Das geht Sie einen feuchten Dreck an. In Richtung Stadt geht kein Zug für Sie.
Ich will einen Besuch machen. Wo gibt es denn so was, die Leute festhalten.
Wir halten Sie nicht fest, wir schicken Sie zurück, Herr Gallas. Wir schützen das Leben der Bürger, das ist eine Vorsorgemaßnahme.
Gallas dreht wortlos um, er versucht es an diesem Tage noch zweimal, mit der Vorortbahn wegzukommen, es mißlingt. Am Abend besucht ihn der Einarmige, redet ihm zu. Beide verschweigen, daß sie sich auf dem Bahnhof auf verschiedenen Seiten gesehen haben. Es ist ihre letzte Begegnung überhaupt.
Der alte Gallas stirbt eine Woche später. Von seinen Söhnen kommen nur zwei zur Beerdigung. Der Einarmige fehlt.
Bernhard wird als ehemaliger Grenzgänger zwangsvermittelt, er arbeitet als Betriebshandwerker in einem großen Industriebetrieb, nicht mehr «Schwarzkopff», sondern «Heinrich Rau», fühlbar weniger Geld verdient er, ist einsam und isoliert. Niemand möchte sich öffentlich mit ihm zeigen. Und die sich mit ihm zeigen wollen, weist er zurück. Er zieht Zwischenwände, macht Reparaturen, und es fällt auf, daß der Maurer Bernhard Gallas eine Arbeit zu liefern versteht, die sich sehen lassen kann. Seine neuen Kollegen: Gallas, wir sind 'ne Komplexbrigade, das heißt, wir ... Gallas: Drüben hättet ihr nicht mal als Hucker gehen können. Drüben? Det kannste vergessen.
1962 fährt Gallas nach Zinnowitz in Urlaub. Der sehnige starke Kerl liegt in seinem Strandkorb, neben dem sich zwei Mädchen in einer Sandburg aalen. Mit dem einen kommt Gallas ins Gespräch. Es ergibt sich eine Gemeinsamkeit, sie ist Sachbearbeiterin in einem Industriebaubetrieb in Karl-Marx-Stadt. Gallas hat was gegen die Sachsen. Das Mädchen: Ich bin aus Luckenwalde. Frag mich nicht, wie ich dahin gekommen bin. Aber die Arbeit ist nicht schlecht. Wo steckst du denn?
Gallas erzählt ihr seine Geschichte und Rita spöttisch: Das ist ja kolossal, aber in der Bude kommst du auf keinen grünen Zweig.
Rita ist achtundzwanzig, ein Jahr jünger als er, groß, schlank; sie macht einen starken Eindruck auf ihn.
Bist du allein hier?
Ich erhole mich gerade von meiner Scheidung. Das Übrige vollzieht sich rasch, er