Das Erbe. Helmut H. Schulz

Das Erbe - Helmut H. Schulz


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die Zeit laufe jetzt schneller. Die Kinder wachsen heran, Rita bleibt für Gallas das Zentrum seines Lebens, ihr vertraut er sich rückhaltlos an.

      Rita: Eigentlich haben wir beide eine Masse Glück gehabt, wenn ich mich so umsehe, bei der einen stimmt es da, bei der anderen hier nicht.

      Gallas, unter einem Ansturm von Liebe, Furcht, Rita zu verlieren: Mädel, wenn du irgendeinen Mist baust, ich mach dich fertig, daß du in keine Hose paßt.

      Das ist der Gallas zur Zeit der Großbaustelle, er ist jetzt vierunddreißig. Irgendwas müßte mit ihm geschehen, soll er nicht nur zufrieden sein, soll er sich nicht nur auf den letzten Abschnitt seines Lebens bis zur Rente vorbereiten. Er kann was, er weiß was, er ist ein Mann geworden.

       7

      In wenigen Wochen hatte sich die Ebene in ein riesiges Lager verwandelt. Von der etwas höher gelegenen Straße aus gesehen, die an der Mülldeponie vorbeiführte, war das Gelände von oft benutzten Fahrwegen kreuz und quer aufgeraut. Pausenlos rollten überschwere Wagen mit ihren Lasten über diese Wege, Kräne entluden sie an den dafür bestimmten Plätzen. Es war vorauszusehen, daß bei einsetzendem Schlechtwetter in Herbst und Winter die jetzt schon ausgefahrenen Wege unüberwindliche Hindernisse bilden würden.

      Zunächst sollten provisorische Trassen entstehen, die an den zuerst fertigzustellenden Bauobjekten vorbeiführten. Ein Gewirr von Schildern mit Ziffern und Buchstaben leiteten die Fahrer der Wagen zu den Plätzen. Oft genug verirrten sich die Anlieferer trotzdem, fanden erst nach langem Suchen die Bestimmungsorte, obgleich eine Einweisungsstelle geschaffen worden war. Sie lag in der ersten aus Fertigteilen errichteten Baracke, vor der eine große Schilderwand die wichtigsten Daten und Informationen enthielt.

      Am Rande der Bahnlinie war das Zeltlager entstanden. Schon in der dritten Woche kamen ununterbrochen neue Leute aus einem Dutzend anderer Baubetriebe an. Niemand hatte immer einen genauen Überblick, wie viel Menschen überhaupt schon die Baustelle bevölkerten. Die Neuankömmlinge bezogen die großen Hauszelte, es mangelte an Unterbringungsmöglichkeiten. An mehreren Stellen der Zeltstadt gab es Wasch- und Trinkwasser, es lief aus zahlreichen Hähnen in hölzerne Auffangrinnen, die das Wasser in einen rasch aufgeworfenen Graben ableiteten. Ein besonderes Zelt blieb der Küche und Kantine vorbehalten. Nur die Leute der Vorausabteilung aßen noch in der «Schleuse», sie bildeten schon so etwas wie eine Stammbesatzung, kannten sie doch die meisten Punkte, Wege und Anlaufstellen aus den ersten Wochen. In der Regel waren sie zuerst damit beschäftigt, den neuen Leuten Ortskenntnis beizubringen. Gekocht wurde in der Zeltküche an mehreren Gulaschkanonen, die Vorräte lagerten jedoch in festen Baracken. Übrigens hatte die Küche auch noch sämtliche Kaltverpflegung zu beschaffen, eingeschlossen die Getränke, Kaffee, Bier, Brause, Tee. Zu gewissen Zeiten wimmelte das Zelt von verärgerten, herumbrüllenden Leuten. Am geschlossensten arbeiteten in diesen Wochen noch die ausgeborgten Einheiten der Armee. Sie rückten auf ihren Mannschaftswagen pünktlich an, übernahmen die dringendsten Arbeiten, verlegten provisorische Leitungen für Strom und Telefon. Die Leere des Geländes, wie sie sich noch vor drei Wochen geboten, war urplötzlich in eine unübersichtliche, drängende Fülle umgeschlagen.

      An verschiedenen Stellen war mit Ausschachtungsarbeiten begonnen worden. Bagger arbeiteten an Baugruben; in langer Reihe standen die Transportfahrzeuge, nahmen die Erdladungen auf und fuhren sie ab. Fieberhaft wurde auch an einigen weiter entfernt gelegenen Stellen gebaut. Hier entstanden mehrere Wohnblöcke für die ausländischen Arbeiter, denen ein gewisser Komfort geboten werden sollte. Irgendein örtlicher Wohnungsbaubetrieb kam damit ganz gut voran, er unterstand der Oberbauleitung. Später sollte das Kraftwerk die Wohnsiedlung für sein Stammpersonal übernehmen. Über dem ganzen riesigen Areal lagerte ständig eine Dunstwolke stinkender Abgase.

      Der Frühling mit mildem Wetter, leichtem Regen und wärmendem Sonnenschein war gekommen. Gesträuch und die wenigen Bäume, die mehr aus Zufall stehen geblieben waren, zeigten Triebe und Knospen, der Geruch von Frühling mischte sich mit dem Dieselgestank. Der Waldstreifen, der das Gelände begrenzte, lag näher, als bei dunstigem Wetter anzunehmen. Ein Teil der Zeltstadt lehnte sich an dieses Waldstück an, das eine geringe Ausdehnung besaß, aber immerhin ein Stück Natur bot. Was aus größerer Entfernung für Sandboden gehalten werden konnte, erwies sich als tiefer Lehm von verschiedener Färbung. Helles Ocker wechselte mit Rostbraun. Bei länger anhaltendem Regen konnte das Wasser nicht versickern, es stand in mächtigen glitschigen Tümpeln auf den Fahrwegen, oder es bildete einen zähen Schlamm in den schon ausgehobenen Baugruben. Da alle bewegten Lasten ein hohes Gewicht hatten, da die Fahrzeuge selbst ein tonnenschweres Gewicht darstellten, sank die Fahrspur von Fahrt zu Fahrt tiefer. Die Profile der Räder griffen nur noch schlecht. Mehr als einmal mußte nachgeholfen werden, ein Traktor oder eine Raupe schleppten dann die steckengebliebenen Wagen an, bis sie wieder auf befahrbaren Wegen standen.

      Nach Normen oder überhaupt nach Kennziffern zu arbeiten, war in dieser Zeit nicht möglich. Häufig verdoppelten sich die geplanten Zeiten, in schlimmeren Fällen verdreifachten sie sich. Außerdem litt der gesamte Maschinenpark unter hohem Verschleiß. Obgleich der Oberbauleitung besondere Bedingungen eingeräumt worden waren, zum Beispiel bei dem Einsatz der örtlichen Transportmittel - es handelte sich um ein Schwerpunktobjekt -, besserte sich die Lage vorderhand nicht. So gab es bei fast allen Tiefbauarbeiten schon erhebliche Zeitverluste, die kaum aufgeholt werden konnten. Es lag nicht so sehr an menschlichem Versagen als an den Schwierigkeiten, die nicht zu beherrschen waren. Bis jetzt erschien die Baustelle als ein Chaos, das kein menschlicher Wille in eine bestimmte Ordnung auflösen konnte.

       8

      Im Zentrum dieses scheinbaren Durcheinanders stand eine lange, wetterfeste Baracke, um die sich andere Baulichkeiten, mehr oder minder provisorisch errichtet, gruppierten. Eine große, an den Giebelseiten offene Halle, mit Platten gedeckt, diente als vorläufiger Abstellraum für die Maschinen. Fertigzellen, kastenartig ineinandergeschachtelt, Zelte und primitive Verschläge aus Holz beherbergten Abteilungen, Werkstätten und Lager, die nicht in einer der festen Baulichkeiten untergekommen waren.

      Die Baracke stand auf einem Betonfundament. Ein langer Mittelgang, von dem links und rechts die Zimmer abgingen, führte durch sie hindurch. Auch eine Warmwasserheizung war montiert, die bis zum Herbst an das Verteilernetz eines kleinen, für den Übergang von einigen Jahren gedachten Heizwerkes angeschlossen werden sollte. Wenigstens gab es schon elektrischen Strom und Telefon, ohne Fernsprechverbindung hätte sich dieser Organismus auch nicht mehr in Gang halten lassen.

      Die Zimmer waren einfach geweißt, sie hatten Latexanstriche, die Böden waren mit Kunststoffbahnen belegt oder beklebt, und alles in allem erweckte die Baracke den Eindruck, als sei das Provisorium für eine lange Zeit vorgesehen. Sonst enthielt die Baracke einfach alles, was schnell erreichbar sein mußte, die Telefonzentrale, alle wichtigen Leitungsbereiche, eine Küche, Toiletten, Waschräume. Gleich vorn neben der Telefonzentrale und den Waschräumen lag das Küchenzimmer mit einem Heißwasserspeicher, einer Anrichte, Kühlschrank und Abwaschtisch. Tagsüber stapelte sich hier schmutziges Geschirr, Tassen, Teller und Kännchen. Sekretärinnen wanderten über den langen Mittelgang, um Chefs und Gäste, deren es täglich einige Dutzend gab, mit Kaffee zu versorgen.

      Auf der anderen Seite des Mittelganges mußten sich die Abteilungen Kader und Sicherheit ein winziges Zimmer teilen. Allerdings stand noch ein weiterer Raum für die Personalkartei zur Verfügung. Weiter lag hier neben diesen beiden Räumen die Wirtschaftsabteilung. Damit war das erste Viertel der Baracke ausgefüllt, auf engstem Raum arbeiteten acht bis zehn Menschen, die freilich selten in ihren Zimmern anzutreffen waren. Alle Räume wurden abends versiegelt.

      Im zweiten Viertel lagen Planung, Investition, Ökonomie und gegenüberliegend Technik mit der Zeichenabteilung. Das vorletzte Viertel der Baracke war den Bauleitern mit der Oberbauleitung vorbehalten, während das letzte Viertel die gesellschaftlichen Leitungen aufnahm, Parteileitung, Gewerkschaftsleitung und FDJ-Leitung.

      Koblenz verfügte über ein Sekretariat und ein Doppelzimmer, dort standen ein Sitzungstisch mit acht Stühlen, sein Schreibtisch, Telefone, eines mit Direktleitung nach Berlin und eine Wechselsprechanlage. Auf einem kleinen Tisch stand noch ein Aufzeichnungsgerät, Koblenz pflegte seine Anweisungen und Berichte abends oder


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