Das Erbe. Helmut H. Schulz

Das Erbe - Helmut H. Schulz


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Hinter dem Schreibtisch, die Wand überspannend, hingen ein Generalplan und eine Magnettafel.

      Ruhe gab es in dieser Baracke nie. Ab sieben Uhr rasselten die Telefone, hackten Schreibmaschinen, wurde über den Mittelgang geschrien. Ständig mußte irgendwer gesucht werden, und ebenso regelmäßig wurde der Betreffende nicht gefunden, oder er kam erst, wenn die Verbindung längst zusammengebrochen war. Vor der Baracke reihten sich die Autos auf. Jeder, der kam, stellte seinen Wagen mit der größten Selbstverständlichkeit vor der Zentrale ab. Namentlich morgens, gegen sieben Uhr, wenn Koblenz seine Stabsbesprechung abhielt, zu denen alle Leiter erscheinen mußten, drängten sich die Wagen vor dem niedrigen Haus.

      Diese Besprechungen vereinigten wenigstens einmal täglich alle wichtigen Leute, jeder gab einen Kurzbericht über die Situation in seinem Teilbereich. Es wurden die nächsten Maßnahmen getroffen. Gewöhnlich entschied Koblenz alles selbst, oder er delegierte jemand aus dem Stab, bestimmte Vorhaben anzukurbeln und bis zum Ende zu verfolgen. Der Oberbauleiter hatte die Lage der einzelnen Teilobjekte gut im Kopf, er hätte die Symbole auf der Karte wohl nicht nötig gehabt.

      Jeder Tag verlief so oder so ähnlich. Die Situation früh verglich Koblenz gern mit dem Punkt Null, dann begann er die Figuren zu rücken, bis der ganze Bauplatz durch ihn gleichsam in Bewegung versetzt worden war. An vielen Objekten wurde in dieser Phase durchgehend gearbeitet, Koblenz oder einer seiner Stellvertreter fungierten dann als Chef vom Dienst, denn auch während der Nacht riß das Kommen und Gehen selten ab. Mit Spannung wurde die folgende Frühsitzung erwartet, wo Koblenz wiederum den Punkt Null herstellte.

      Er arbeitete nach einem Schema, nach einem Modell, besser gesagt, vielleicht war er der Einzige, der wirklich ständig Überblick besaß. Indessen hatte dieser von ihm organisierte Informationsfluß von unten nach oben auch Nachteile. Koblenz bezog alles auf seine Person, keine Arbeit, die er nicht zu kontrollieren wünschte, kein Teilplan, den nicht er selbst entworfen, den er nicht dirigierte, kontrollierte. Wie ein Schachspieler oder Feldherr genoß er die Vorzüge seiner Stellung, seines Ranges, und zweifellos - bezog er ein gut Teil seiner Entscheidungsfreude aus dieser Position, er hatte Spaß an der Sache. Die anderen mußten seine Ideen, seine Pläne und Vorhaben ausgestalten. Es kam häufig vor, daß sie ihn schlecht verstanden oder eigene Ideen in die Pläne Koblenz hineinmogelten. In dieser Periode brachte fast jeder Tag solche Teilaufgaben und war es auch nur die Frage, wo was künftig zu lagern sei.

      Was Koblenz vorwärts trieb, das Bewußtsein, Herr über alles zu sein, dämpfte den Eifer der anderen. Der Alte machte es ja doch anders, als sie vorschlugen, dem war ja nie etwas recht zu machen, der dachte für sie alle, der entschied für sie alle.

      Es war längst nicht mehr Kisko allein, der von Koblenz schief angesehen wurde. Mit den stürmischen Veränderungen auf der Großbaustelle zogen täglich neue Leute ein, stellten sich vor, wurden von Koblenz freundlich empfangen und eingewiesen. Mit einem Paket Unterlagen, ihrer Teilaufgabe entsprechend, zogen sie sich zurück, erschienen zum Rapport mit fix und fertigen Gedanken, aber Koblenz hatte meist seine eigenen Vorstellungen über die jeweilige Sache. Regelmäßig verwarf er, was ihm unterbreitet wurde, gab mit seiner scharfen Stimme neue Anweisungen. Wer sich nicht fügte, der wurde im Handumdrehen seine Arbeit wieder los. Immer lag Konzeptpapier auf dem Schreibtisch des Oberbauleiters, immer war er bereit, mit raschen Strichen aufs Papier zu werfen, was andere in Szene setzen mußten.

      Alters und mehr noch Gablenz kannten diesen Stil des Oberbauleiters. Ihre Stellung als seine Stellvertreter verdankten sie ihrer Ideenlosigkeit. Anpassungsfähig, waren sie der verlängerte Arm des Oberbauleiters, erledigten sie prompt und termingerecht, was er wünschte und wie er es wünschte.

      Im Leitungsstab kam es dennoch selten zu Reibereien, sie lagen zwar in der Luft, aber diese Periode erlaubte nicht, Feindschaften zu entwickeln, wechselte doch täglich die Szene, und mit Lob war Koblenz nicht sparsam, jedoch auch mit Tadel nicht. Er selbst durfte von keinem kritisiert werden. Ging etwas schief, so war die Verantwortlichkeit sicher schon vorher von Koblenz von sich auf einen anderen verlagert worden. So stand er immer gut da, niemand konnte ihm etwas am Zeug flicken. In ihren Zimmern unter vier oder sechs Augen redeten die Leiter offener, bezeichneten den Chef als Verrückten, als hinterhältigen Intriganten, hüteten sich aber, ihm in den Arm zu fallen. Die Stimmung war nicht besonders gut nach einigen Wochen Arbeit; sie war auch deshalb nicht gut, weil sich trotz großer Anstrengungen keine Plantreue herstellen ließ.

      Koblenz tröstete: «Das ist in der ersten Zeit immer so, ihr dürft euch nicht kopfscheu machen lassen. Bei solchen Großprojekten differieren die Planungsgrößen oft erheblich. Später kann man mit einer anderen Qualität rechnen. Plötzlich schlägt der Rückstand in Vorlauf um.»

      Die einen oder anderen, die schon Erfahrung mit großen Bauvorhaben hatten, sahen wohl das Unsichere dieser Kalkulation. Solange Koblenz antrieb, alles auf sich vereinigte, solange diese Ein-Mann-Methode überhaupt noch möglich war, so lange mochte es wirklich nach dem Kopf des Oberbauleiters gehen.

      Anders benahm sich der Oberbauleiter draußen bei seinen Männern. Der Mann, der keinen Widerspruch ertrug, ohne zurückzuschlagen, ließ sich von irgendeinem Bauarbeiter ganz gern rüffeln.

      «Ja, Gallas, Sie haben ja völlig recht, es ist eine bodenlose Schlamperei, daß wir keine kontinuierliche Betonzulieferung haben. Ich stimme Ihnen auch völlig zu, wenn Sie meinen, wir müßten ein eigenes Betonwerk haben. Das ist eine gute Idee. Ich werde mich dafür verwenden. Und sonst, wie kommen Sie sonst zurecht?»

      Das Betonwerk stand längst im Plan. Es war nicht nur zum Munde reden oder Manipulation, wenn Koblenz zustimmte. Ohne Ingenieure wäre er schon ein paar Monate ausgekommen; ohne Leute vom Schlage eines Gallas hätte er einpacken müssen. Deshalb hörte Koblenz immer auf Gallas Ratschläge. Schon in der Vorplanungsphase hatte Koblenz ein Betonwerk an Ort und Stelle für das wichtigste gehalten. Daß ihm der Baupraktiker Gallas, ohne es zu wissen, auf diesem Weg seiner Gedankenkette gefolgt war, bestärkte ihn nur in seiner Meinung, alles müsse operativ, also weniger umständlich gelöst werden. Hinzu kam noch, daß Koblenz sich auf Baustellen auskannte, er haßte Schlamperei, und er sah bei Gallas die Arbeit, die er selbst für vorbildlich hielt.

       9

      Gallas arbeitete mit der Gruppe an einem der wichtigen Objekte, dem Komplexgebäude, das später die stromerzeugenden Maschinen und Steueranlagen aufnehmen sollte. Noch waren sie mit dem Legen des Fundamentes beschäftigt. Überall ragte Armierungseisen aus schon gegossenem Beton. Ein dichter Wald oben umgebogener Eisenstangen erhob sich; gerade, kreisförmig, alles noch unterhalb der Erdoberfläche. Um den Bau herum zog sich ein breiter Plattenweg, auf dem sie jetzt die Schienen für den Turmdrehkran befestigten. Der Kran stand noch umgelegt in Nähe des Objektes. Ein kleinerer Mobilkran, von einem Tieflader mit Betonplatten gefolgt, verlegte immer noch andere Platten, rollte auf der von ihm selbst verlegten Grundlage weiter vor. Weichand und einer von den neuen Leuten, Bleuel, arbeiteten daran. Es ging zügig voran. Hinter ihnen montierten Vogt und zwei andere Schienen, auf denen der Turmdrehkran später laufen sollte.

      Gallas, Fouché und Kachulla verflochten die Armierungseisen, warteten auf die nächste Betonlieferung. Der Bau fraß eine ungeheure Menge Beton, der, naß geschüttet, mit dem elektrischen Rüttler verdichtet wurde. Die Männer trugen hohe Gummistiefel, deren obere Ränder umgekrempelt waren und einen breiten hellen Streifen sehen ließen. In die Gummistiefel steckten sie die Hosenbeine. Die blauen Wattejacken schützten vor der Witterung, der weiße Helm den Kopf. Überall war der Boden um den Komplexbau herum zu glitschigem Lehm geworden. Zeigten sich irgendwo ein Streifen Sand oder noch Mutterboden, so sproß an diesen Stellen helles Grün, Melde, Gras, Unkraut. Auf dem festen Boden am Rande des Bauwerkes standen mehrere Biege- und Schneidegeräte, mit denen sie die Armierungsrohlinge in die für den Augenblick richtige Form schnitten und bogen. Dort hielten sich jetzt Gallas, Fouché und Kachulla auf. Sie schätzten die Zeit, bis mit der Montage der Fertigteile begonnen werden konnte. Fouché meinte, daß sie noch drei Wochen Fundament schütten würden. Kachulla hielt diese Spanne für zu kurz. «Im Jejenteil», Fouché erläuterte, wie sich die Arbeit entwickeln müsse, aber Gallas unterbrach ihn trocken: «Sechs Wochen.»

      «Wer kommt auf den Kran?»

      Kachulla


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