Das Erbe. Helmut H. Schulz
er und schon Bauingenieur, mit glattem Gesicht, glatten Händen, weißem Kittel, der wurde geschoben, dem wurde alles leicht gemacht, der verdiente sich hier die Sporen.
«Was wollen Sie denn noch?»
«Da ist noch was», sagte Gallas nach einer Weile, «ich habe gehört, Sie wollen Bleuel auf den Kran setzen.»
«Darüber reden wir, wenn es soweit ist», Kisko stand auf, um Gallas zu verabschieden, «ich komme heute Nachmittag mal raus.»
Als Gallas draußen an seinem Rad fummelte, wurde das Fenster aufgestoßen. Koblenz neigte sich heraus und reichte Gallas die Hand. «Kommen Sie auf einen Sprung rein, ich habe gerade mal fünf Minuten Zeit.»
Erst im Zimmer des Oberbauleiters kam Gallas der Gedanke, sich bei Koblenz Rückendeckung zu suchen. Er berichtete die Sache mit dem Kran. «Das ist natürlich 'ne Bagatelle für Herrn Kollegen Kisko, und natürlich kann er darüber entscheiden, wie er will, aber korrekt wäre es doch wohl, mit uns über so was zu sprechen.» Die Hand Gallas spielte mit dem Helm, zuckte, ballte sich zur Faust, die Erregung des Mannes verratend.
Koblenz schwieg eine Weile, dann, während er Kaffee in zwei Tassen goß, bemerkte er: «Sagen Sie mal, Gallas, die Brigadeleitung, das sind ja wohl Sie allein?»
Mißtrauisch schwieg Gallas, der Oberbauleiter würde sich wohl mit seinem Bauleiter nicht seinetwegen überwerfen, eine Krähe hackte der anderen noch immer kein Auge aus, andererseits kannte er die Sympathie des Alten für sich.
«Ich will Sie nicht aushorchen», sagte Koblenz freundlich, für mich ist die Arbeit das Wichtigste, aber was ist eigentlich gegen die neuen Leute zu sagen?»
«Nichts, sie machen sich ganz gut.» «Also dann, warum nicht Bleuel, Gallas? Wen würden Sie denn auf den Kran setzen?»
«Weichand», Gallas entschied aus dem Augenblick heraus.
«Mann», sagte Koblenz, «Weichand ist immerhin fünfzig. Der Kran macht einen ja kaputt, das wissen Sie so gut wie ich.»
Langsam sagte Gallas: «Bei Gallas geht kein Mann unter einem Tausender nach Hause, das ist ein Gesetz. Hier in Theerberg muß eine Menge mehr rausspringen.»
«Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß bei Ihnen alle gleich gut sind. Das kann nicht sein, das gibt es nicht, ich habe schließlich auch mal als Maurer angefangen.»
Gallas verwünschte den Einfall, die Sache mit Bleuel aufs Tapet gebracht zu haben, jetzt konnte er aber nicht zurück.
«Stimmt schon», sagte er kühl. «Wir ziehen schon mal einen mit, oder sogar zwei, wenn es sein muß. Hin und wieder schlägt ja mal einer über die Stränge. Das machen wir.»
«Meinen Sie, ich weiß nicht, daß ihr Reserven habt?»
«Auf die Knochen arbeite ich nicht, arbeitet keiner von uns», sagte Gallas hitzig.
«Das habe ich nicht verlangt», Koblenz lächelte.
«Gallas hat einen Daumen», der Brigadier nahm das Lächeln auf, er hob die Hand und bewegte den Daumen, «den kennen die Jungens. Das viele Gerede führt zu gar nichts. Wer bei Gallas bleiben darf, der steht sich nicht schlecht. Diese jungen Sprinter glauben, Arbeit ist Spaß. Der olle Weichand ist noch immer dreimal besser als Bleuel.»
Koblenz trank seinen Kaffee aus. «Passen Sie auf, Ihnen ist wohl auch klar, daß ich die Anordnung Kiskos, mag er sie nun gegeben haben oder nicht, nicht einfach rückgängig machen kann. Das würde ihn verunsichern, hier gibt es auch so was wie einen Verhaltenskodex», er winkte nachlässig ab. «Es ist einfach eine Dummheit, über die Köpfe der Brigadiere hinweg Entscheidungen zu treffen, ich werde Kisko bitten, seine Entscheidung zu überprüfen.»
«Er soll sich um die Träger kümmern», sagte Gallas, zufrieden mit dem Ausgang des Gesprächs, «das ist überhaupt so eine Scheiße, daß wir immer mit dem Nachschub so knapp sind.»
Koblenz zog die Schultern hoch. «Wenn man nicht alles selbst macht, Gallas. Vielleicht habe ich für die nächste Phase einen guten Mann. Den kennen Sie übrigens, es ist Pilgramer.»
Gallas überlegte. «Der muß doch bald achtzig sein.»
«Nicht der Alte, sondern der Enkel.»
Gallas sagte: «Der Alte hat damals viel bei uns gebaut»
«Schön.» Koblenz erhob sich. «Mal sehen; wie sich die Angelegenheit entwickelt. Ich habe den jungen Pilgramer fest im Wort. Dann nehme ich Kisko zu mir rein.»
Gallas fuhr zurück.
Spät am Nachmittag kam Kisko heraus, gab vor, irgendwas kontrollieren zu wollen, stellte Gallas ein paar Fragen und sagte zum Schluß: «Es war doch wohl klar, daß ich nicht über Ihren Kopf hinweg entschieden hätte. Aus einer Bemerkung sollte keiner den Schluß ziehen, ich hätte eine Anweisung, erteilt.»
«Ist gut, Kollege Kisko», sagte Gallas. Er dachte, dessen Tage sind jedenfalls gezählt, auch der Alte hat ihn gefressen. Jetzt biedert sich der Junge an, nicht bei mir, nicht bei Gallas. Was soll überhaupt das gespreizte Gequatsche, unter Bauarbeitern.
«Was die Träger betrifft», sagte Kisko, «die rollen in den nächsten Tagen an.»
Biografie
Wolfgang Kisko - Theorie und Praxis in Übereinstimmung bringen
Randsiedlung einer Großstadt, eine Straßenbahn verbindet viele solcher Siedlungen zu einem zusammenhängenden Revier, später wird das ein industrielles Ballungsgebiet genannt. 1940, in Kiskos Geburtsjahr, trägt die Siedlung, trägt das ganze Gebiet noch die Spuren des Frühkapitalismus; dann entstanden aus Werkstätten, Handwerksbetrieben, bäuerlichen Wirtschaften in einem schnell verlaufenden Prozeß große Industrien, Chemie, Spinnereien, Gießereien, Großschmieden. Früh auch polarisierte sich die Bevölkerung in Arm und Reich, der Mittelstand verschwand mehr und mehr.
Der Vater Kiskos ist Werkmeister in einem Chemiebetrieb. Als Wolfgang Kisko geboren wird, ist er reklamiert, er wird immer reklamiert bleiben. In den kleinen Gärten der Siedlungshäuser ist das Grün grau eingepudert, ein Wunder, daß hier überhaupt noch etwas gedeiht. Man kann hier nicht leben, man muß aber hier leben. Kein Fluß, kein Rinnsal, das nicht stinkt, jeder Wasserlauf ist ein Transportmittel für gelöste Chemikalien. Die Halden drohen schwarz am Horizont, ein dichtes Gleisnetz durchschneidet das Gebiet.
Auch die Mutter Kiskos ist dienstverpflichtet, Spülfrau in diesem Labor des Konzerns, solange der Krieg andauert. Im Hause des Werkmeisters lebt dessen ältere Schwester, sie versorgt den Jungen, sie kümmert sich um das Haus, den Garten, das Essen. Erst kommen die Amerikaner, rücken wieder ab, dann kommen die Russen, sie bleiben. Aus dem Chemiegiganten wird eine SAG, und Vater Kisko nimmt ein Studium auf, er wird Techniker, rückt, weil Mangel an Chemikern, auf in eine Forschungsabteilung, rückt immer weiter auf, durchläuft eine späte Karriere. 1945, noch vor dem Parteienzusammenschluß, tritt er in die Kommunistische Partei ein, arbeitet nicht mehr in der Praxis, sondern ist Mitarbeiter in der Parteileitung. Den Rest seines Lebens verbringt er auf Schulen, er wird Diplomchemiker. Alles, was unter Mühen erarbeitet, bricht zusammen, als Vater Kisko nach einem Infarkt 1964 Rentner wird. Sie ziehen weg aus der ungesunden Gegend, bekommen eine Wohnung in einer Großstadt. Wolfgang, 1946 eingeschult, lernt gut, lernt schnell. Diese ganze Familie lernt immerfort, auch die Mutter hat sich noch zur Laborantin heraufgearbeitet. Wolfgang wird Freundschaftsratsvorsitzender: Junge Pioniere lernen gut, junge Pioniere achten ihre Eltern.
Der Vater: Die Kinderorganisation der Kommunistischen Partei hat eine lange Tradition, Wolfgang. Aus ihr gehen die künftigen Kader hervor, treue Söhne der Klasse, unsere stärkste Waffe ist die Organisation, wie Bebel sagt. Als damals die Reichswehr bei dem Leuna-Aufstand ... aber das wollte ich gar nicht sagen. Ich wollte sagen, daß selbst die Kleinsten beim Aufbau des Sozialismus mithelfen können, Altstoffe sammeln zum Beispiel. Theorie und Praxis müssen übereinstimmen.
Für Wolfgang ist das Leben eine einfache, nach Regeln verlaufende Sache; konzentriert lernen, konzentriert spielen, konzentriert kämpfen. In einem Pionierferienlager