So weit weg uns doch ganz nah. Eomée Wächter

So weit weg uns doch ganz nah - Eomée Wächter


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kamst du mit vier Tagen „Verspätung“ auf die Welt, am 8.9.94 um 5.55 Uhr.

      Die Geburtswehen, die Schmerzen, alles vergessen, als du in meinen Armen lagst, völlig erschöpft und gesund, trotzdem die Nabelschnur sich 2 x um deinen Hals gewickelt hatte. Schon da hat es mir gezeigt, dass du ein Kämpfer bist, dass du einen Grund hast, auf die Erde zu kommen, zu mir.

      Als du deine Augen öffnetest und wir uns ansahen, spürte ich die tiefe Liebe, die uns bis zum Tag X verband und immer noch da ist. Mein Mutterglück war perfekt, ich war so glücklich. Welche Mama denkt in diesem Moment daran, dass sie ihr Baby, ihr Kind wieder hergeben muss?

      Der natürliche Ablauf zeigt uns, dass die Kinder ihre Eltern beerdigen, sie bis zum Tode begleiten. Das Schlimmste im Leben einer Mutter ist es, das eigene Kind loslassen zu müssen, wieder der geistigen Welt zurückgeben, von wo es kam. So wie ich dich als Baby in den Armen hielt, so hielt ich deine Urne bis zu deinem Baumgrab fest in meinen Armen, bis sie im Erdloch verschwand. Sie war fast so schwer, wie dein Geburtsgewicht. Dich nochmal an mein Herz zu drücken, dich fest umarmen, das durfte ich mit deiner Urne.

      Der Tag X, der uns erwartet, bedingungslos, ohne Chance zum Verhandeln, ohne Terminvorgabe, wird unangemeldet vor unserer Türe stehen und sagen: „es ist soweit“. Vielleicht ist es der Grund, warum wir diesen Tag nie wahrhaben wollen, ihn wegschieben, verdrängen und sogar Angst vor ihn haben. Wir kämpfen um unser Leben, jede Sekunde zählt, versuchen, unser Leben zu verlängern, egal was es uns kostet, doch der Tod lässt nicht mit sich verhandeln.

      Der Tod kommt ohne Vorbereitungen, er meldet sich nicht an, damit du noch Zeit hast, schnell mal noch in den Urlaub zu fliegen, deine Freunde zu besuchen, dein Testament zu schreiben, deine persönlichen Dinge zu ordnen. Nein, er überrascht dich, deine Familie und der Schock ist riesengroß, unermesslich der Verlustschmerz.

      Ich habe mich gefragt, warum es auch mich so hart getroffen hat, wo wir doch alle wissen, dass bei der Geburt der Tod bei uns ist, mit uns verbunden ist, untrennbar. Liegt es daran, dass wir uns nicht genügend vorbereiten, ihn nicht akzeptieren wollen, den Tod am liebsten zum Mars schicken möchten ohne Rückfahrkarte, weil wir leben wollen? Ja, das wollen wir! Und doch wissen wir, dass es begrenzt sein wird, dass wir irgendwann in die Box springen werden, wann und zu welchen Konditionen wissen wir nicht. Macht uns das Angst, weil wir nicht wissen, WIE er zu uns kommen wird? Werden wir mit einer schweren Krankheit konfrontiert, durch Unfall, durch Suizid? Was hat unser Schicksalsplan, unser Seelenplan vorgesehen?

      Ich spreche immer wieder vom Seelenplan, denn ich bin davon überzeugt, dass unsere Seele unsterblich ist, dass sie immer wieder in einen neuen Körper reinkarniert, um Erfahrungen zu sammeln, um sich weiter zu entwickeln. Wenn du Leser nicht daran glaubst, kannst du spätestens hier das Buch wieder zurücklegen, denn ich bleibe bei dieser Erkenntnis, bei diesem „Modell“ der Wiedergeburten.

      Auch wenn ich keiner Religion „angehöre“, glaube ich an Gott, der schwer zu definieren ist, jedoch jeder mit ihm auf seine Art und Weise Kontakt hat, das sollte jeder respektieren, gleich welcher Religion er angehört, es gibt nur einen Gott, der hat aber viele Namen hier auf Erden.

      Und ich habe mit meinem Gott geschimpft, mit ihm gehadert, ich war wirklich böse auf ihn. Wie konnte er es zulassen, dass du Timo so plötzlich von uns gerissen wirst?

      Somit ging ich auf die Suche nach Antworten auf meine vielen Fragen in der Hoffnung, das Geschehene zu verstehen und begreifen zu lernen, es zu akzeptieren, irgendwie. Dieser tiefbohrende undefinierbare Dauer-Herzschmerz, die unendliche Wut, die energieraubende Trauer, das große tiefe Tränental und Orientierungslosigkeit ließen mich in einen Strudel/Tornado der Zerstörtheit wiederfinden, aus dem ich versuchen muss, wieder herauszukommen.

      Als am 3.11.13 gegen 14 Uhr das Telefon in meinem Kurzimmer klingelte, wusste ich schon, dass es mein Chef ist, da er sich per Handy-SMS angekündigt hatte. Doch wegen schlechter Verbindung wollte er mich unbedingt am Festnetz sprechen. Ich ahnte nichts Schlimmes, viel eher ging ich davon aus, dass er eventuell eine Akte suchte oder noch Fragen hatte, was meine Arbeit anging. Ich arbeite als Angestellte bei der Kripo. Als er am Telefon war, spürte ich in seiner Stimme einen Unterton, den ich bis dato nicht kannte. Er bat mich, mich hinzusetzen und ich dachte immer noch, dass ich irgendwie einen „Bock auf Arbeit geschossen“ habe, sonst gäbe es ja keinen Anlass, mich anzurufen.

      „Timo ist tot“ … dieser Satz verfolgt mich seitdem, denn es ist eine Aussage, die ich nicht begreifen konnte, ich verstand nicht, was mein Chef sagen wollte. Ich fragte nach, was das soll und nachdem er es ein paar Mal wiederholte, musste ich es irgendwie geschnallt haben, dass er meinen Timo meint.

      „Timo wurde vom Zug überfahren, er wurde identifiziert, er liegt in der Rechtsmedizin“, war sein weiterer Satz und ich legte, eher knallte ich den Hörer auf, weil ich das nicht wahrhaben wollte. Vielleicht träumte ich, denn ich war ja schon 2 Tage krank im Bett gelegen, konnte die Wanderung mit meinen Kur-Müttern nicht mitmachen.

      Doch dann kam zeitgleich eine SMS von Robin: „Mum, Timo ist nicht daheim, wir wollten doch zur Oma“. Mein Gehirn lief auf Hochtouren, mein Verstand pochte hartnäckig an meiner Gehirnrinde, mein Herz raste, mir war schwindelig. Mir wurde schlagartig bewusst, dass Robin allein zu Hause war und nach Timo suchte, es war 14 Uhr. Und auf Timo konnten wir uns immer verlassen, wenn es einen vereinbarten Termin gab, hielt er sich stets daran. Wieso war Timo jetzt nicht da?

      Was ich dann tat, war irgendwie gesteuert, anders konnte ich es in meinem Schockzustand nicht erklären – im Nachhinein. Ich rief meine beiden Freundinnen an und sagte nur kurz und knapp, was passiert ist, bat sie, sich sofort auf den Weg zu unserem Haus zu machen, da Robin allein ist und Timo verzweifelt sucht. Ich wollte Robin die Todesnachricht, während meine Freundinnen unterwegs zu ihm waren, am Telefon selbst überbringen, auch wenn ich 400 km entfernt und unter Schockzustand war. Ich wollte diese Aufgabe als seine Mama erledigen und wählte die Privatnummer.

      Wie überbringt man eine Todesnachricht schonend? Gar nicht! Robin reagierte genauso wie ich am Telefon mit meinem Chef. Er lief die Treppen hoch zu Timos Zimmer – dort lag er nicht in seinem Bett. Er lief in den Keller, in Timos Partyraum – dort war er nicht. Verzweifelt versuchte Robin eine Antwort zu finden, dass Timo daheim ist, suchte alle Räume ab, vielleicht ist er gerade duschen …. Ich war froh, als ich die Stimmen von meinen Freundinnen am Telefon hörte und ich konnte nur noch sagen: „ich komme heute noch nach Hause“.

      Sie übernahmen die Rolle, die ich hätte erfüllen müssen als Mutter, doch ich war nicht da für ihn. Ich fühlte mich wie ein aufgeblasener Luftballon, der gleich zerplatzen will. Was lief da ab, ein Film ein Traum, ja bitte, bitte ein Traum! Doch es war ein Alptraum.

      Im Nachhinein war ich froh, dass Timo die Hausklingel nachts ausstellte, sonst hätte der KDD (Kriminaldauerdienst) Robin frühmorgens geweckt und Robin wäre allein Zuhause mit dieser Schreckensnachricht gewesen. Nach diesem Telefonat, suchte ich verzweifelt nach Gesprächspartner im Kurhaus, doch alle waren wandern. Niemand da! Nicht mal die diensthabende Schwester da bzw. greifbar, die Rezeption nicht besetzt. Ich verstand das nicht, dass man mich alleine ließ, wenn ich schon krank im Bett lag. Wo sind sie alle, mit wem kann ich reden?

      Irgendwann fand man mich in der Eingangshalle liegend, erinnerlich war es jemand vom Küchenpersonal. Vieles habe ich vergessen, verdrängt. Es waren dann zwei Frauen bei mir, die mich beruhigen wollten, hielten mich fest, weil ich wieder loslaufen wollte, nach Hause … einfach nur nach Hause zu meinen Kindern!

      Irgendwann kam die Haus-Psychologin, Seelsorger, Arzt und die Polizei in mein Kurzimmer, man hat mich dorthin gebracht, wie? Weiß ich nicht mehr. Eine junge Beamtin (Kollegin) fragte mich: „wie geht es Ihnen?“ Die Fensterscheiben in meinem Zimmer hielten den Fausthieb stand. „Wie soll es mir denn gehen, wenn ich gerade erfahre, dass mein Sohn getötet wurde?“ entgegnete ich ihr schreiend. Sie verschwand sehr schnell aus dem Zimmer.

      Irgendwann waren meine Sachen gepackt und ich wartete auf den Krankenwagen, der mich nach Hause bringen sollte. Selber durfte ich nicht mehr fahren, wäre auch dazu nicht mehr im Stande gewesen. Zwei Begleiter im Krankenwagen, der jüngere davon, so alt wie Timo, hatte eine Art an sich, die mich beruhigte und mich auch an Timo erinnerte. Er hörte mir zu, soweit er mein Gestammel noch


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