Mein liebes, liebes Kind. Holde-Barbara Ulrich

Mein liebes, liebes Kind - Holde-Barbara Ulrich


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Ängste, Trugbilder

       39. Hoffnungsschimmer

       40. Vorsichtige Anfänge

       41. Marie tanzt wieder

      Prolog

      An einem Sommertag kam Alines Mutter zu mir, eine sympathische Frau mittleren Alters. Sie bat mich um Hilfe bei der Erfüllung ihres innigsten Wunsches – für ihre tote Tochter mit einem Buch ein Erinnerungs-Denkmal zu schaffen.

      In jenem Sommer lag Alines Sterbetag schon mehr als fünf Jahre zurück, Maries Trauer aber war noch immer groß und zerstörerisch. „Sie starb mit 18; von Geburt an ist sie die andere Hälfte meines Herzens“, sagte sie, als wäre die Tochter noch da.

      Ich entschloss mich, über das Leben und Sterben des Mädchens und das Phänomen des unaufhörlichen Trauerns der Mutter zu schreiben. Marie überließ mir ihre minutiösen Aufzeichnungen über den erschreckenden Verlauf der Krankheit und ihr sehr persönliches Tagebuch.

      Wir trafen uns etwa ein Jahr lang regelmäßig. Ich lernte ihren Mann und ihre jüngere Tochter kennen, sprach mit Freunden von Aline, las einen Stapel Fachliteratur und informierte mich bei einigen der behandelnden Ärzte und bei Psychologen.Von Anfang an gingen unsere Begegnungen über das reine Erkunden hinaus. Marie sprach später von einer Art Therapie.

      Jetzt, acht Jahre nach dem Tod ihrer Tochter, ist sie noch immer nicht frei von Trauer – wie sollte das auch möglich sein? Aber sie ist ihr nicht mehr so erbarmungslos ausgeliefert.

      Nun, da das Buch geschrieben ist, widme ich es Aline und ihrer Mutter und allen Menschen, die lernen müssen, mit der Hälfte ihres Herzens zu leben.

       Holde-Barbara Ulrich

       Berlin, Mai 2013

      1. Alles im Lot

      Im Juli hat Aline Geburtstag. Es ist ihr achtzehnter, sie erwartet ihn mit Ungeduld. Nicht nur, dass sie dann endlich erwachsen ist und Auto fahren darf, er wird auch sonst vieles in ihrem Leben verändern. Als erstes will sie mit ihrem Freund Markus zusammenziehen. Sie möchte in Berlin-Mitte wohnen, weg aus der Vorstadtidylle ihres bisherigen Lebens, fort aus dem Elternhaus am Rande der Hauptstadt.

      Aline braucht Raum für sich, Trennraum auch von der aufopfernden Fürsorge ihrer Mutter. Sie meint, es sei an der Zeit, ihr Leben allein auszuprobieren, ihre Selbstständigkeit zu testen, die Bequemlichkeit ihres Elternhauses hinter sich zu lassen, das ihr bisher vieles zu leicht gemacht hat.

      In den vergangenen Monaten hat sie oft mit Markus darüber gesprochen. Er wunderte sich über die Dringlichkeit, mit der sie es tat. Als hätte sie mit ihren siebzehn Jahren nicht noch alle Zeit der Welt. Für ihn selbst steht erst einmal im Vordergrund, das journalistische Zusatzstudium in Schottland zu beenden und seinen Master zu machen.

      Markus ist neun Jahre älter als Aline und steht schon fester im Leben. Seit kurzem ist er erstaunt über die Unrast, die sie von Zeit zu Zeit anfällt und über ihre melancholischen Verstimmungen, für die es keinen erkennbaren Grund gibt. In beiden Fällen braucht sie stets große Zuwendung. Sie fordert Liebesbeweise ein, die ihm mitunter abwegig erscheinen. Kürzlich fragte sie ihn mit todernster Miene, ob er bereit wäre, sie zu pflegen, wenn sie ernsthaft krank werden würde. Er weiß, dass er solche Fragen ernst nehmen muss, sonst ist sie gekränkt.

      Sobald der Geburtstagstrubel vorüber ist, will sie mit ihren Eltern über ihren Auszug sprechen. Mit aller gebotenen Vorsicht und Rücksichtnahme wird sie es tun, denn um nichts in der Welt will sie Marie, ihre Mutter, vor den Kopf stoßen. Und auch Ludwig ihren Stiefvater, mit dem sie gut auskommt, möchte sie nicht verletzen. Sie spürt Tag für Tag mit welcher Innigkeit ihre Mutter sie liebt. Welch ein Glück, eine solche Mutter zu haben, sagt sie sich oft.

      Wer Alines Leben kennt, hält ihr gelegentlich vor, sie hätte das Glück gepachtet. Das neue Haus mit eigenem, großzügigen Zimmer und einem Extra-Bad für sie, die Urlaubsreisen bis ans Ende der Welt, die Spritztouren nach New York, London, Dubai, um ihr den Geographieunterricht zu illustrieren, jedes Wochenende der Flug nach Edinburgh, um Markus zu sehen und, ganz wichtig für sie, immer die trendigsten Outfits.

      Gepachtetes Glück - Aline mag solche Sprüche nicht.

      Und auch Marie, die seit der schweren Geburt dieser Tochter ihr Herz mit ihr teilt, so jedenfalls fühlt sie es, will von Glücksgarantien nichts wissen. Wenn jemand darauf zu sprechen kommt, schüttelt sie energisch den Kopf. „Nein, nein, nichts mit gepachtetem Glück. Aline ist von Natur aus glücklich, weil sie sich auf das Leben freut“, erwidert sie dann.

      „Wann beginnt eigentlich das richtige Leben?“ fragt Aline kurz vor dem Geburtstag ihre langjährige Freundin Meret. Sie blickt dabei nachdenklich vor sich hin und beantwortet die Frage gleich selbst: „Na, spätestens mit achtzehn, oder?“

      „Da kannst du ja in ein paar Tagen loslegen“, lacht Meret, „kannst mit Markus zusammenziehen, allein Autofahren, dir die Haare lila färben, die Berliner Szene aufmischen...“

      „Übertreib nicht“, unterbricht Aline sie. „Mit Markus richtig zusammenleben, in eine eigene Wohnung ziehen, ein kleines Stück weg von hier, na klar, das ist echt cool. Und auch mal Kinder haben und in einem eigenen Studio arbeiten, wenn ich mit der Ausbildung fertig bin“, setzt sie zögernd hinzu.

      Meret findet, dass sie wieder einmal etwas verhängt

      wirkt. In letzter Zeit ist ihr das schon öfter aufgefallen, dieses Abtauchen in unbekannte innere Gefilde, diese plötzliche melancholische Abwesenheit.

      „Ist doch alles im Lot bei dir“, versucht sie sie aufzumuntern. „Warte mal ab, das packst du mit Links.“

      Aline nickt und lächelt der Freundin zu. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihr Leben für keines der Vorhaben mehr ausreichen wird. Ein viertel Jahr, nachdem es richtig begonnen hat, wird sie krank. Und ein halbes Jahr später ist sie tot.

      2. Der 18. Geburtstag

      Schon am Sonnabend, dem Tag vor dem eigentlichen Geburtstagsfest, treffen nachmittags die ersten Gäste ein. Aline und ihre Mutter wollten es so: Zur Volljährigkeit ein großes, zweitägiges Fest. Marie hat das ganze Haus geschmückt. In den Zimmern überall frische Blumen und die Terrasse zum Garten voller Girlanden und bunter Lampions. Auf dem Rasen davor ließ sie ein großes Partyzelt und ein flaches hölzernes Podest zum Tanzen aufbauen. Ihre Große tanzt so gern.

      Marie sieht sie auf der Terrasse stehen. Sie beobachtet sie eine Weile. Wie hübsch sie ist mit ihrem tief ausgeschnittenen, durchsichtigen, weißen Shirt auf sonnengebräunter Haut, ihren gestreiften, hautengen Jeans, den weißen, spitzen Lederstiefeletten und dem bis auf den Rücken fallenden blonden Haar. Aline schaut in den Garten und lächelt vor sich hin. Sie stellt sich gerade vor wie sie und Meret neun Monate später, am achtzehnten Geburtstag der Freundin, auf dem Tisch tanzen werden. Sie hat es Meret versprochen.

      Marie führt die Gäste auf die Terrasse zu ihrer Tochter. Aline begrüßt jeden mit Grübchenlächeln und Zahnlückencharme, umarmt die Freunde, Verwandten, Bekannten, nimmt die Geschenke entgegen und legt

      sie auf einen Tisch, auf dem sich die Päckchen schon stapeln. Sie verspricht, mit dem Öffnen bis nach Mitternacht zu warten, weil dann erst das richtige Fest beginnt.

      Etwa dreißig Leute sind inzwischen da und weitere werden noch erwartet: die Großeltern, ein paar von Alines Freunden, allen voran Markus, der extra aus Schottland gekommen ist, einige Freunde der Eltern


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