Mein liebes, liebes Kind. Holde-Barbara Ulrich

Mein liebes, liebes Kind - Holde-Barbara Ulrich


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läuft geschäftig hin und her, als sei sie heute die Hauptperson. Aline lässt sie gewähren. Einmal stupst sie die Kleine an, lächelt versöhnlich und sagt: „Na, du Wichtigtuerin, wie sollte ich heute bloß ohne dich fertig werden!?“

      Marie hat ihrer Jüngsten erlaubt, heute ausnahmsweise bis kurz nach Mitternacht aufzubleiben. Wann das sein wird, ist Ansichtssache. Sophia fragt vorsichtshalber nicht weiter nach.

      Zehn Minuten vor Mitternacht verschwindet Ludwig. Marie schaut auf ihre Armbanduhr, nickt mit dem Kopf und stellt beruhigt fest, dass Aline nur Ohren und Augen für Markus hat. Sie wartet noch ein paar Minuten, bevor sie Rebecca und noch ein paar Mädchen heranwinkt. Sie sollen ihr helfen, die Luftballons zu verteilen.

      Sie schaut sich noch einmal um. Sieht Aline, ihre schöne, große, erwachsene Tochter. Es wird nicht lange dauern, und sie wird selber Mutter sein. Marie erinnert sich, wie das Mädchen ihren kleinen Cousin auf dem Schoß hielt, ihn sacht in den Schlaf wiegte und ihn nicht mehr hergeben wollte. Die anderen amüsierten sich darüber. Aber Aline focht das nicht an, sie verharrte endlos auf ihrem Stuhl mit dem schlafenden Baby im Arm.

      Punkt Mitternacht segeln die mit Gas gefüllten Ballons wie ein Schwarm bunter Vögel kreuz und quer in den Himmel. Im selben Moment erklingt, noch ungeordnet, auf der Terrasse ein Gesang. Er schwillt an und kommt langsam in Takt. Unter dem irrlichternden Funkensprühen der Wunderkerzen stimmen schließlich alle ein in das Lied, dessen Reime wie geschaffen scheinen für den heutigen Tag: Du kannst nicht immer siebzehn sein,/ Aline, das kannst du nicht./ Aber das Leben wird dir noch geben,/ was es mit siebzehn dir verspricht...

      In der Mitte des fröhlichen, lauten Gesanges steht sie, versunken lächelnd, da. Sie dreht ihre Wunderkerze, die sie nicht angezündet hat, von einer Hand in die andere und scheint mit leicht geneigtem Kopf in sich hinein zu lauschen.

      Marie hat sich dicht neben sie gestellt. Als es mit dem verklingenden zwölften Glockenschlag, der aus dem Wohnzimmer dringt, Zeit wird für die guten Lebenswünsche, nimmt sie ihr Geburtstagskind in die Arme und flüstert ihr zu: „Prinzessin, ich wünsche dir, dass du so glücklich bleibst, wie an diesem Tag. Und wenn du mal Kummer hast, denke daran, dass wir einherzig sind, du und ich. Dann ist alles nur halb so schlimm.“

      Die Gäste drängen näher, um mit Aline anzustoßen. Mit einem kleinen Lächeln nimmt sie das Glas, das ihr Markus reicht, und nickt in die Runde. In diesem Augenblick erklingen aus mehreren Mündern erstaunte „Aaahhhs!!“ und „Ooohhhs!!“ Aline setzt ihr Glas ab und schaut sich suchend um. Eine riesige rote Schleife rollt durch das weit geöffnete Gartentor. Sie ist auf einem kleinen, schwarzen Auto befestigt, das Ludwig seiner Tochter direkt vor die Füße rollt.

      Aline tritt an den Rand der Terrasse und starrt auf die Schleife. Dann fasst sie sich, springt die paar Stufen hinunter und fällt Ludwig, der sich aus dem Sitz zieht, um den Hals. Mit einer kumpelhaften Geste, so als stände ihr das Gefährt zu ihrem Erwachsensein zu, reicht er ihr den Autoschlüssel.

      Nachdem sie das glänzende Gefährt mit ungläubiger Miene umrundet hat, verkündet sie: „Ich taufe dich auf den Namen Louis!“ Die Gästeschar spendet Applaus.

      Zu ihrer kleinen Schwester sagt sie: „Komm Fine, wir fahren eine Ehrenrunde.“ Die Kleine klettert auf den Beifahrersitz.

      Marie winkt ihnen nach und ruft: „Seid vorsichtig!“

      Langsam schiebt sich die große rote Schleife in die Dunkelheit. Marie bleibt am Straßenrand und sieht ihr hinterher.

      Vor Aufregung hat Aline vergessen, das Licht einzuschalten. Unter den Straßenlaternen schimmert der schwarze Lack noch ein paar Mal kurz auf. Dann verschluckt ihn die Nacht.

      *

      Marie bringt die Kleine ins Bett. Sie streichelt ihr Gesicht und bleibt noch ein wenig bei ihr sitzen. Plötzlich spürt sie, wie kalte, nackte Angst in ihr hoch kriecht.

      Sie geht in ihr Zimmer, schlägt das Tagebuch auf und beginnt zu schreiben. Die einzige Möglichkeit,

      wieder ins Gleichmaß zu kommen. Die Sätze gehen ihr schnell von der Hand:

      *

       Der Himmel war den ganzen Tag über blau.

       Auch morgen wird die Sonne scheinen. Das möchte sein, denn unsere Prinzessin hat Geburtstag. Sie hat sich so sehr auf den Tag gefreut.

       Wenn ich sie so ansehe in ihrem Glück, will mir fast das Herz zerspringen.

       Um Mitternacht haben wir Luftballons mit guten Wünschen in den Himmel geschickt und Wunderkerzen angezündet. Aber das Auto war wohl doch die größte Überraschung.

       Bei soviel Freude überfällt mich plötzlich die Angst.

       Ich will nicht, dass es irgendjemand merkt und Alinchen schon gar nicht. Es gibt ja eigentlich gar keinen Grund dafür. Aber ich denke manchmal, dass wir vielleicht zu viel des Guten haben, zuviel Glück. Und dass wir das eines Tages teuer bezahlen müssen.

      3. Glück und Unglück

      Marie ist fest davon überzeugt, dass sich Gutes und Schlechtes, Glück und Unglück im Laufe des Lebens gegeneinander aufwiegen. „Alles Gute hat seinen Preis“, sagt sie gelegentlich, wohl auch, um ihre beiden Töchter auf den Wert ihres sorgenfreien, gut ausgestatteten Lebens aufmerksam zu machen, etwas, das nicht für jeden Menschen selbstverständlich ist.

      Und genau so hält sie es mit dem Glück. Glück, damit meint sie nicht die glücklichen Zufälle im Privaten und Beruflichen. Alines Ausbildungsvertrag in einer Kosmetikschule, ihr eigener beruflicher Neubeginn als Etikette-Trainerin oder Ludwigs geschäftliche Erfolge - das alles sind überaus erfreulichen Dinge. Sie können das Leben, zumindest für eine gewisse Zeit, erleichtern, verbessern und verschönern, und die, die es betrifft eine zeitlang beglücken. Dass aber so ein Beglücken etwas mit dem ersehnten, kostbaren Gefühl des Glücklichseins zu tun hat, schließt Marie für sich aus. Wenn das so wäre, würde sie nicht immer wieder solchen geradezu panischen Beunruhigungen ausgesetzt sein, wie in Alines Geburtstagsnacht, denn sie kann mit ihrem Leben eigentlich rundum zufrieden sein.

      Für Marie ist das Glücklichsein etwas Inneres, ein Gefühl von Leichtigkeit, Aufgehobenheit und Geschütztsein. Hervorgerufen vielleicht vom ersten Morgenblick in einen stillen Garten, vom Gang barfuß auf einem heißen, sandigen Sommerweg, dem Anruf eines lange vermissten Freundes...

      Es ist etwas, das sie in die Lage versetzt, mit innerer Festigkeit, in sich ruhend und gelassen, in den Tag zu gehen. Und vor allem ist es das Gegenteil ihrer Angstattacken.

      Meist währt dieser harmonische Zustand der Seele nur einen Augenblick lang. Je kürzer er ist, um so intensiver erlebt sie dieses überwältigende, ihr ganzes Sein umfassende Glückgefühl.

      Marie sagt: „Das Gefühl, das für mich Glück bedeutet, empfinde ich am stärksten, wenn es sich ohne großen Anlass langsam und warm in meiner Seele ausbreitet. Wenn das geschieht, bin ich unverwundbar. Dann umfängt mich ein unbeschreiblich gutes Gefühl. Ich weiß in diesem Augenblick, meine Welt ist in Ordnung und die meiner liebsten Menschen auch. Ich bin in meiner Mitte und ganz und gar einig mit mir.“

      Und so ein Gefühl hat einen Preis?

      „Ja“, sagt Marie, „zumindest fürchte ich, dass es so ist. Meine Erfahrung hat mir immer wieder gezeigt: Man bekommt im Leben nichts Gutes umsonst.“

      *

      Ein wenig später, schon tief im Unglück, weiß Marie, dass es ans Bezahlen geht. Offenbar stimmt es, was sie gelesen hat und nicht hat glauben können, dass ein Merkmal des Unglücks darin besteht, sein Kommen anzukündigen. Nicht nur dem Betroffenen, sondern auch seinem nahesten Menschen. Sie ist sich sicher, dass ihre plötzlich einsetzende Angst in der


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