Mein liebes, liebes Kind. Holde-Barbara Ulrich

Mein liebes, liebes Kind - Holde-Barbara Ulrich


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doch mal, wie viel Geld so ein Kind kostet.“

      Das ist die Gedankenwelt seiner Mutter, zu der Marie kein besonders vertrautes Verhältnis hat. Und wie zur Bestätigung dieser Vermutung gibt sie für Marie einen Zettel mit, auf dem der Termin einer Abtreibung vermerkt ist. Sie hat also hinterrücks schon alles geregelt.

      Als ihr Gerd das Stück Papier übergibt, sieht er ihr nicht in die Augen. Mit Blick auf den Zettel sagt er: „Wenn du nicht abtreibst, müssen wir uns trennen.“ Er ahnt nicht, wie leicht er es ihr mit dieser Bedingung macht.

      „Okay, dann trennen wir uns“, antwortet sie ohne Bedauern, da ist sie im vierten Monat.„Ich fand mich ab, denn es gab keinen Grund zu klagen. Mein Leben war in Ordnung. Ich hatte einen Beruf, verdiente Geld, besaß eine eigene Wohnung, und meine Eltern freuten sich auf ihr Enkelkind. Es fiel mir leicht, meinem innersten Gefühl zu folgen und mich auf mein Kind zu freuen. Und ich wusste von da an, dass es immer, was auch geschehen würde, mein über alles geliebtes Kind sein würde.“

      Die Schwangerschaft verläuft ohne Probleme. Marie wird immer runder und schöner. Dass sie gynäkologisch besonders fürsorglich betreut wird, liegt an dem für damalige Verhältnisse außergewöhnlich hohen Alter dieser Erstgebärenden. Sie geht auf die sechsundzwanzig zu.

      *

      Der errechnete Geburtstermin ist der 11. Juli 1984. Sechs Tage vorher setzen starke Wehen ein. Ihr Vater, ein Pilot, der gerade auf Urlaub zu Hause ist, bringt sie ins Krankenhaus. Zwei Tage hängt sie am Wehentropf. Nach sechsundzwanzig Stunden Quälerei entscheiden sich die Ärzte für eine Operation. Marie hat vierzig Grad Fieber und einen Blutdruck von hundertachtzig. Am 7. Juli wird das kleine Mädchen Aline mit einer Glocke ins Leben gesaugt.

      Marie ist vom ersten Blick an hingerissen von ihrem Kind. Täglich wartet sie mit Ungeduld darauf, dass die Kleine zum Stillen gebracht wird. Und wenn die Schwester sie wieder abholt, ist es ein schwerer Abschied.

      Die Operationswunde heilt mühsam. Marie muss zwei Wochen länger in der Klinik bleiben. Es ist kein Drama, ihr Kind ist ja bei ihr.

      Eine der ersten Besucherinnen ist Gerds Mutter, die das Kind von Anfang an abgelehnt hat. Marie erscheint es, als wolle sie sich rächen, als sie ihre Prophezeiung hört: „Meine Freundin hat genauso unnatürlich entbunden wie du, und ihr Kind ist bald darauf gestorben.“

      Marie haftet dieser Satz ein Leben lang an. Bei der kleinsten Unpässlichkeit ihres Kindes versetzt er sie in irrationale Ängste. Zu Hause, in ihrer kleinen Wohnung, die ganz auf das Baby eingestellt ist und aussieht wie eine Puppenstube, fühlt sie sich mit dem kleinen Mädchen geborgen. Unter der Fürsorge ihrer Mutter wird sie schnell wieder gesund und vergräbt ihre Ängste.

      Anderthalb Jahre bleibt sie zu Hause und kümmert sich um Aline. Die Kleine kann mit einem Jahr laufen und braucht ein halbes Jahr später keine Windeln mehr. Sie ist ein auffallend hübsches und freundliches kleines Mädchen. Und wenn es mit seiner lustigen Zahnlücke lächelt, hat es die halbe Welt gewonnen. Später hört Marie, dass in Afrika eine Zahnlücke als besonderer Schutz- und Gunstbeweis der Götter gilt. Von da an steht fest, sie wird sie nicht noch einmal korrigieren lassen. „Meine Tochter war mein Leben, und es gab kein anderes neben ihr“, sagt sie.

      Der leibliche Vater kommt selten. Meist zu Gelegenheiten, zu denen sich Väter anstandshalber sehen lassen: Geburtstage, Weihnachten, ab und an auch zu Ostern. Er ist freundlich, bringt kleine Geschenke mit und erkundigt sich nach diesem und jenem. Sehnsucht nach dem Kind ist nicht zu bemerken.

      Das kleine Mädchen nimmt wahr, dass der Mann, der ihr Vater ist, sie nicht vermisst in der langen Zeit, in der er unsichtbar bleibt. Nach seinen Besuchen vergisst auch sie ihn immer wieder schnell. Als sie größer ist, erzählt ihr Marie von ihrem Vater. Sie lässt ganz bewusst nicht aus, dass er der Schwangerschaft damals skeptisch gegenüber stand. Immer in Sorge um das Wohlergehen ihrer Tochter erkundigt sie sich später einmal vorsichtig bei ihr, ob ihr womöglich der Vater fehle. Alines Antwort ist kurz und schlüssig: „Er wollte dich nicht, dann will ich ihn auch nicht.“

      

      *

       Unsere kleine Prinzessin ist nun schon sechs Jahre alt geworden. Wir haben so schön Geburtstag gefeiert. Mit Oma und Opa und mit der anderen Oma, die sie inzwischen auch in ihr Herz geschlossen hat. Ihr Vater war auch kurz da, aber Alinchen hat das nicht besonders beeindruckt. Sie ist schon so vernünftig. Sie sieht, was ihre Mama macht und sie sieht, wie sich dieser Mann verhält, der sie ab und zu besucht. Und so entscheidet sie einfach mit ihrem Herzen. Ich bin froh, dass sie ihn nicht vermisst, obwohl ich nie ein schlechtes Wort über ihn verloren habe. Er kommt einfach zu selten und dazu noch ohne große innere Anteilnahme. Das empfindet ein Kind eben sehr schnell.

      Aber dafür lieben wir die Kleine umso mehr. Ich natürlich sowieso und Oma und Opa auch. Die beiden reißen sich Arme und Beine aus für die geliebte süße Maus. Wenn ich sie nicht hätte, sähe es ziemlich finster aus, zumal ihre andere Oma, die unsere kleine Aline angeblich so überschwänglich liebt, ins Ausland verzogen ist. Aber an das alles will ich gar nicht denken. Und schon gar nicht an die unglaubliche Sache mit der bereits vorbereiteten Abtreibung.

      7. Der neue Mann

      Als sie den Sohn ihrer Hausärztin zufällig bei seiner Mutter in der Praxis trifft, entsteht auf beiden Seiten sofort Sympathie. Marie besticht vor allem seine intelligente, witzige Art. Und auch Ludwig gefällt die Patientin seiner Mutter. Sie ist eine temperamentvolle, attraktive, junge Frau mit schwarzen Locken und großen, braunen Augen, die den Männern den Kopf heiß macht.

      Marie hat Lehren gezogen aus den Missklängen ihrer ersten Liebe und schaut mit Vernunft auf männliche Bewerber. Ludwig hält sie für eine seriöse, viel versprechende Chance. Sie sehen sich öfter, sprechen viel miteinander, stellen fest, gehen zusammen aus.

      Der junge Mann ist es gewohnt, die Dinge des Lebens pragmatisch zu nehmen. Er betrachtet die Sachlage, analysiert sie, wägt ab und trifft klare Entscheidungen. Als er weiß, dass Marie mit ihm leben will, löst er eine Beziehung aus den letzten Studententagen und macht der neuen Freundin einen Antrag.

      Die Dinge entwickeln sich, und Aline hat plötzlich einen richtigen Vater in Aussicht. Einen, der ihre Mama will und sie auch. Das ist erstmal eine gute Nachricht. Andererseits empfindet sie die Tatsache, dass sie ihre über alles geliebte Mama nun nicht mehr für sich allein haben wird, als großes Manko.

      „Der ist doof“, lautet das allererste, durchaus eigennützige Urteil der Dreijährigen. Ludwig weiß, dass Marie nur mit ihm leben kann, wenn auch ihr Kind mit ihm leben will. Er arbeitet an dem Problem, ohne sich zu verbiegen.

      Auch Marie tut das Ihre. Behutsam spricht sie mit der Kleinen, malt ihr die künftige Dreisamkeit in schönen, bunten Farben aus, versucht, sie für ein neues, anderes und in jeder Beziehung reicheres Leben zu gewinnen. Sie schwört, dass sie sie künftig mit Ludwig genau so sehr lieben wird wie bisher ohne ihn. Sie ist ehrlich zu ihrem Kind und überzeugt davon, dass sie mit diesem Mann eine gute Wahl für ihre Tochter und sich getroffen hat. Aber genauso gut weiß sie, dass es für sie keine beständige Liebe geben kann, wenn nicht auch Aline sicher und fest darin verankert ist.

      *

      Ludwig und Marie heiraten und leben zuerst in Maries kleiner Wohnung. Bald darauf baut Ludwig ein Haus für sich und seine Familie.

      Aline wächst ohne Not in die Ehegemeinschaft mit Mutter und neuem Vater hinein. Ludwig ist im wörtlichen Sinn gar kein neuer Vater, weil es zuvor keinen alten gab und damit auch keine Verlustängste oder Trennungsgefühle, die das Kind zu verkraften hätte. Die anfänglichen Bedenken, ihre geliebte Mama mit einem anderen Menschen teilen zu müssen, schwinden schnell. Ludwig ist dienstlich viel unterwegs, und Marie kann sich, wie schon zuvor, ihrer kleinen Tochter widmen.

      Ludwigs Mutter sieht diese Beziehung, die sich ernsthaft


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