Mein liebes, liebes Kind. Holde-Barbara Ulrich

Mein liebes, liebes Kind - Holde-Barbara Ulrich


Скачать книгу
das Unglück zu ihr. Aline wurde von einer rätselhaften, unheilbaren Krankheit befallen.

      Nach kurzer, tiefer Verzweiflung wies sie dieses Unglück weit von sich. Sie beschloss, alle Mittel und Möglichkeiten einzusetzen, um Aline wieder gesund zu machen. Sie würde ihre Tochter nicht hergeben, ihr geliebtes Kind, mit dem sie sich so eng verbunden fühlt, als wäre sie eins mit ihm. Das Schicksal kann alles von ihr fordern, aber nicht ihr Kind. Aline darf nicht sterben!

      Aber wie kommt sie überhaupt auf die Idee, dass das Mädchen sterben könnte?! Krank werden kann schließlich jeder einmal. Und wenn das Unglück so groß sein sollte, dass es tatsächlich das Leben ihrer Tochter verlangt, wird sie ihm entgegen treten. Eher wird sie sich selbst opfern als ihre Tochter herzugeben. Sie versucht, für sich

      Klarheit zu verschaffen. Ihre Gedanken schreibt sie ins Tagebuch:

      *

       War ich vielleicht nicht dankbar genug für mein Glück? Oder zu wenig dankbar, oder zu spät? Und ist Alines schreckliche Krankheit vielleicht der Preis, den ich nun dafür zahlen muss.

       Ich will nicht ungerecht sein. Aline ist krank, ja. Aber sie wird wieder gesund! Ich werde nicht rasten und nicht ruhen, bis diese ganze schreckliche Sache ausgestanden ist. Und auch Ludwig wird alle Hebel in Bewegung setzen, damit sie die beste Behandlung bekommt.

       Sie ist noch so jung, hat soviel Kraft und Mut. Und wir lieben sie alle so sehr.

       Ich hoffe, nein, ich bin mir gewiss, dass bald wieder alles so ist wie es war. Ich werde alles Menschenmögliche dafür tun.

      *

      Als Aline tot ist, beginnt auch Marie abzusterben. Sie hat keine Argumente, die sie dazu bewegen könnten weiterzuleben. Im Gegenteil, sie glaubt, vor Sehnsucht und Verzweiflung den Verstand zu verlieren. In relativ schmerztauben Momenten, jenseits der allergrößten inneren Not, hat sie manchmal den Zettel vor Augen, den ihr Gerd, Alines leiblicher Vater, damals zuschob. Darauf war ein Termin vermerkt, ein Abtreibungstermin. Seine Mutter hatte ihn besorgt, ohne lange zu fragen, ohne sich mit Marie zu beraten.

      Marie war außer sich. Nicht nur über Gerds Willfährigkeit, sondern vor allem über die Herzlosigkeit seiner Mutter. Die Erinnerung daran macht sie schaudern. Wie zu sich selbst sagt sie: „Auch wenn ich gewusst hätte, dass dieses Kind, gerade mal achtzehn, unter meinen Augen elendiglich wird sterben müssen, hätte ich es nicht abgetrieben. Vom ersten Schlag seines Herzens war ich davon überzeugt, dass es ein wunderbares Kind sein würde. Von da an liebte ich es mit ganzer Kraft. Und eingedenk aller schrecklichen Zufälle des Lebens, die ganz sicher kommen würden, habe ich es niemals bereut, nicht einen einzigen Herzschlag lang, dieses Kind geboren zu haben.“

      Eine vorausahnende Angst um ihre Tochter, die so schwer in die Welt gekommen ist, genauso schwer, wie sie hat sterben müssen, überfällt Marie mehrmals im Lauf der Jahre. Sie erinnert sich: „Aline war drei, und ich saß abends an ihrem Bettchen und las ihr ein Märchen vor. Sie schlief schnell und selig dabei ein. Als ich sie so liegen sah mit ihren rosa Bäckchen, dem leicht geöffneten Mund, aus dem ihre ersten kleinen Zähne mit der lustigen Lücke, genau in der Mitte, blitzten, überkam mich plötzlich ein Gefühl tiefer Verzweiflung. Ich nahm ihre Hand und weinte vor Furcht, dass ihr irgendwann etwas Schreckliches zustoßen könnte. Das hing mit der großen Liebe zusammen, die ich von Anfang an für sie hatte.“

      Fünfzehn Jahre später, an dem Tag, an dem Aline stirbt, sitzt Marie wieder an ihrem Bett. Sie hält die leblose, kalte Hand des Mädchens, blickt in ihr vom Tod entstelltes Gesicht, sieht ihren leicht verzerrten Mund und die Zahnlücke zwischen den geöffneten Lippen und flieht vor Grauen aus dem Zimmer.

      4. Der Tod tritt herein

      Ich bleibe jetzt bei ihr und gehe nicht mehr weg“, sagt Marie zu der Schwester, die ins Zimmer gekommen ist, um die Werte zu kontrollieren. „Puls 170, Blutsättigung 60, Temperatur 41“, liest sie die Zahlen ab und überträgt sie in die Krankenakte. Dann klammert sie die Akte wieder sorgfältig ans Bett und wendet sich Marie zu.

      „Sie wollen hier bleiben? Das kann doch noch eine Ewigkeit dauern.“

      Marie stockt der Atem. Was bedeutet dieser Satz: Das kann doch noch eine Ewigkeit dauern? Für Marie beschreibt er das schlimmste Unglück, das einem Menschen zustoßen kann, etwas Unvorstellbares, etwas das nicht zu ertragen ist. Er bedeutet das langsame, qualvolle Sterben des eigenen Kindes, ihrer erstgeborenen Tochter, die gerade erst achtzehn Jahre alt geworden ist. Das kann doch noch eine Ewigkeit dauern – was für ein unmenschlicher Satz!

      Eine Ewigkeit dauern? – Nein, das kann es nicht, und das darf es auch nicht! Was redet die Schwester denn da?! Weiß sie nicht, was hier geschieht? Sieht sie nicht, dass Marie am Bett ihres sterbenden Kindes sitzt? Einer Sterbenden, die vor drei Monaten noch, an einem vor Kälte klirrenden Tag, mit ihrer Familie und ihrem Liebsten am Meer war und sich vor Glück in den Himmel reckte. Sie wird auch nicht wissen, dass der Krebs, ein unvorstellbar seltener, bösartiger, heimtückischer Krebs, ein Krebs, der so junge Menschen höchst selten anfällt, dieses Glück in Windeseile vernichtet hat.

      Ja, eine Sterbende, die wegen ihrer Schmerzen und ihrer Todesangst vor Tagen ins Koma geschickt wurde, die seit Wochen nicht mehr sprechen kann, die auch das Sehen verloren hat, die nicht mehr imstande ist, ihren Kopf zu bewegen und nicht mehr allein atmen kann, die nur noch mit einem Schnitt in die Luftröhre in der Lage ist, mühsam dem Tod entgegen zu röcheln. Das alles steckt in dem grausamen Wörtchen das und schlägt jede Ewigkeit aus dem Feld. Wenn die Schwester meint, das Wort Ewigkeit verheiße vielleicht Trost, dann irrt sie sich, oder sie ist herzlos und abgestumpft. So unglaublich es scheint, Marie kann für Aline nur noch hoffen, dass sie so schnell wie möglich aus dieser Art Ewigkeit, bar jeder Hoffnung, erlöst werden wird.

      Bleich und bewusstlos, wie sie da liegt, mit ihren dichten blonden Stoppelhaaren und den langen dunklen Wimpern auf ihren weißen Wangen sieht sie aus wie eine leblose, aus Wachs geformte Puppe. Aber noch lebt sie. Apparate, Spritzen und Infusionsnadeln bewegen ihren Kreislauf, stoßen den Takt ihres Herzens an, helfen ihr bei der schweren, knisternden Arbeit des Atmens und halten ihren Stoffwechsel in Gang.

      Marie nimmt Alines leichte, schmale Hand, die schlaff auf dem Laken liegt, und drückt sie an ihre Wange, während die Schwester geübt den Sitz der Kanülen prüft. Als sie den Kopf der Kranken zur Seite hebt, sieht Marie, dass auch in die Halsbeuge eine Kanüle gepflanzt ist, was an dieser zarten, empfindlichen Stelle besonders grausam aussieht.

      Es ist ihre Tochter, die hier liegt, ihr kleines Mädchen, mit dem sie von Anfang an ihr Herz teilt, so dass sie beide einherzig sind. Wie soll sie, wenn Aline jetzt stirbt, mit halbem Herzen weiterleben?

      Einem plötzlich eintretenden Impuls beim Anblick der in der Halshaut steckenden Kanüle folgend, will Marie der Schwester, die immer noch an den Drähten, Kabeln und Schläuchen hantiert, diese Frage vorhalten. Aber sie tut es nicht. Die Schwester ist nicht zuständig für solche Fragen. Da müsste sie sich schon an Gott wenden, wenn es ihn gäbe, an das Schicksal vielleicht, wenn sie wüsste, was das ist, oder an einen allwissenden Psychologen.

      Nein, sie will niemanden fragen. Was helfen Antworten, wenn sie ihr Kind nicht gesund machen können?! Selbst wenn ihr jemand erklären könnte, wie sie ohne Aline leben soll, würde sie es nicht wissen wollen. Erklärungen dieser Art sind sinnlos für sie, weil sie ohne ihr Kind vielleicht leben könnte, aber nicht leben will.

      Plötzlich, panisch geradezu, steht sie von ihrem Stuhl auf und läuft erregt durch den Raum, so dass die Schwester, die gerade die Medikamente austeilt, erstaunt aufblickt. Gibt es denn überhaupt noch etwas, was sie für Aline tun kann, fragt sich Marie. Sie kann doch hier nicht einfach nur sitzen und auf den Tod warten!

      Vor innerer Erregung beginnt sie zu zittern. Ganze Szenarien laufen durch ihren Kopf. Sie könnte Aline auf den Arm nehmen und sie nach Hause bringen, sie könnte


Скачать книгу