Mein liebes, liebes Kind. Holde-Barbara Ulrich

Mein liebes, liebes Kind - Holde-Barbara Ulrich


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      Soll sie den Professor rufen, von ihm Rechenschaft verlangen, ihn zum Handeln auffordern? Und, falls er nichts tut, ihn des Totschlags bezichtigen?

      Langsam sackt sie in sich zusammen, geht zu Alines Bett, setzt sich wieder neben sie. Es ist ohne Belang, ihr Kind noch in irgendein Recht zu setzen, jetzt, wo der Tod schon die Tür aufstößt. Begriffe wie Recht und Unrecht haben keine Bedeutung mehr. Das einzige Maß, das hier gilt, ist die Zeit. Sekunden, Minuten, die verrinnen, ganz und gar unabhängig von Besserung oder Verschlechterung, Leben oder Tod. Die Zeit verrinnt und nimmt Alines Leben mit. Die Zeit ist der Tod.

      *

      Die Schwester ist fertig mit ihren Verrichtungen und streicht dem Mädchen behutsam über den Kopf, hebt ihren Oberkörper ein wenig an und schüttelt ihr das Kissen auf. Aline reagiert mit einem knarrenden Ton aus dem Röhrchen, das aus der Schnittwunde unter dem Kehlkopf kommt. Marie erschrickt, nimmt es aber als Lebenslaut und ist dankbar dafür. Sie sieht hoch und versucht ein Lächeln. Die Schwester nickt ihr zu und sagt: „Ich besorge Ihnen einen Schlafsessel.“

      Zwei Pfleger bringen kurz darauf einen Armlehnensessel aus dem Besucherraum und stellen ihn ans Fenster. Später kommt ein Arzt. Er blickt kurz auf den Monitor, ohne etwas zu sagen, und sieht vor sich hin. Dann erkundigt er sich, weil irgendetwas gesagt werden muss, nach Maries Befinden.

      „Ich werde bei Aline bleiben“, sagt sie und weist mit dem Kopf auf den Sessel.

      „Sie können unmöglich in dem Sessel schlafen, sie brauchen ein Bett. Ich kümmere mich darum“, sagt der Arzt, froh darüber, etwas veranlassen zu können, weil sonst nichts mehr zu veranlassen ist. Er geht mit einem freundlichen Kopfnicken aus dem Zimmer. Kurz darauf rollt ein Pfleger ein zweites Bett in den Raum.

      Marie rückt es dicht an Alines Bettgestell heran und legt sich nieder. So eng, wie es geht, schiebt sie sich an die Kranke heran. Sie nimmt ihre Hand, streichelt ihr Gesicht, legt vorsichtig ihren Kopf auf Alines Schulter, spürt das tröstliche Pochen der Halsschlagader, küsst sie immer wieder, umfängt sie sacht, behält sie weinend in ihren Armen, bis sie erschöpft neben ihr einschläft.

      Kurz vor halb sieben wacht sie auf. Ihr ist, als hätte sie jemand angestoßen. Das Gesicht von Nässe aufgequollen, blickt sie um sich. Nichts hat sich in dem Raum verändert. Alles ist so, wie wenige Stunden zuvor. Das milchige Licht der Nachtlampe fällt matt auf Alines Gesicht. Sie liegt unbeweglich in ihrem Bett. Aber die Stille um sie herum hat einen anderen Ton. Es fehlt etwas. Und plötzlich weiß Marie, was es ist: Das Rasseln des Luftholens ist verstummt. Aline atmet nicht mehr! Gleich darauf setzt der schrille Warnlaut des Kontrollgerätes ein. Marie springt aus dem Bett und stürzt den endlosen, leeren Klinikkorridor entlang. Laut ruft sie um Hilfe.

      Die diensthabende Ärztin, die gerade einem anderen Notruf gefolgt war, kommt ihr eilig entgegen. „Was ist denn passiert?“, fragt sie.

      „Sie atmet nicht mehr...“, stößt Marie hervor.

      „Wie bitte?“

      „Die Beatmungsmaschine schrillt!“

      „Das passiert manchmal. Ihre Tochter wird gehustet haben, darauf reagiert das Gerät.“

      Gehustet, hat sie gesagt, als ob das Kind noch husten könnte, mein Gott, wenn sie doch nur gehustet hätte – denkt Marie in ihrer Angst. Die beiden Frauen hasten in Alines Zimmer. Als sie in die geöffnete Tür treten, tönt das Gerät immer noch. Der Monitor zeigt eine lange gerade Linie, die 0-Linie des Todes

      „Herzstillstand“, sagt die Ärztin in sachlichem Ton. Sie ruft keine Verstärkung, spritzt kein Medikament, unternimmt keine Wiederbelebungsversuche, setzt keinen Defibrillator in Gang. Das einzige, was sie macht, weil alles andere keinen Sinn mehr hat, sie befreit die Patientin, deren Herz stehen geblieben ist, von allem technischen Zubehör. Sie wendet sich zu Marie und sagt einige Sätze, deren Bedeutung nicht in ihr Bewusstsein gelangen. Dann geht sie hinaus und schließt leise die Tür hinter sich.

      *

      Marie setzt sich ohne Begreifen neben die Tote auf die Kante des Bettes und beschließt, solange hier zu bleiben, bis jemand sie abholen wird, um sie irgendwohin zu bringen. Denn ihr ist klar, dass mit einem Menschen, dessen Herz nicht mehr schlägt, irgendetwas getan werden muss.

      Eine Schwester kommt ins Zimmer, eine andere als am Abend zuvor, und packt Alines Sachen zusammen. Es sieht aus, als solle sie verlegt oder entlassen werden. Sie geht um das Bett herum, in dem das tote Mädchen liegt, und verrichtet wortlos ihre Arbeit.

      Marie sieht ihr zu. Als die Schwester endlich fertig ist und hinausgeht, spürt sie eine Erleichterung, als hätte sie nun endlich ihre Tochter zurück. Aline liegt da wie eine Schlafende, entspannt und erleichtert. Keine Drähte, keine Schläuche, keine Kabel mehr. Sie ruht sich aus. Endlich hat sie es geschafft! Es ist überstanden. Nicht so, wie es alle erhofft haben, aber so, wie es für sie in diesem Moment am besten ist.

      Marie nimmt sie vorsichtig in die Arme, um vielleicht doch noch einen kleinen Rest Lebenswärme zu retten. Behutsam wiegt sie sie hin und her, als wolle sie ihr Baby in einen sanften Schlaf bringen. Während sie sie in ihren Armen hält, merkt sie, wie Alines Haut kälter wird. Sie erstarrt vor Schreck. Es ist, als hätte der Tod sie soeben berührt, um ihr die Wahrheit zu sagen.

      Sie legt den Körper sacht auf das Kissen zurück und setzt sich zitternd wieder auf die Kante des Bettes. Sie spürt, was das für eine Macht ist, der Tod, und das sie nichts gegen ihn ausrichten kann. Hat es überhaupt einen Sinn, hier sitzen zu bleiben und auf etwas zu warten, was ihr das Herz zerreißen wird, fragt sie sich. Aber es geht gar nicht anders, sie muss hier bleiben, um ihrem armen, wehrlosen Kind bis zum bitteren Ende beizustehen - bis jemand kommt, ein Tuch über sie deckt und sie aus diesem Zimmer schiebt.

      Sie rückt ans Fußende des Bettgestells und sieht Aline an.

      Sieht, wie der Tod seine Arbeit verrichtet. Langsam, sorgfältig, unbeirrbar. Das Gesicht wird schmaler und spitzt sich zu. Die Haut spannt sich an gewissen Stellen und wird durchsichtig. Es wird nicht lange dauern, und sie kann Adern, Muskeln und Sehnen sehen. Ihr schaudert’s vor Kälte und Entsetzen. Sie bleibt jedoch fest entschlossen, ihre tote Tochter nicht im Stich zu lassen. Sie sitzt und schaut. Stille. Nur das Ticken der Uhr. Sie versinkt in sich. Schwankt ein wenig, der Blick erlischt, die Lider fallen zu. Der gefühllose Schlaf der Erschöpfung.

      Irgendwann schreckt sie auf. Sieht das Kind. Weiß sofort, was geschehen ist. Noch bricht der Schmerz nicht los; Aline braucht sie noch. Unverändert liegt sie da. Beim näheren Hinsehen gewahrt sie, dass die Lippen sich blau gefärbt haben. Sie scheinen sich auch verschmälert zu haben, denn sie schließen sich nicht mehr ganz. Durch den offenen Spalt zwischen den Lippen kann sie mehr und mehr die Zahnlücke sehen. Diesen kleinen Schönheitsfehler, der ihr stets etwas Spitzbübisches verlieh, wenn sie lächelte oder redete. Eben etwas Besonderes.

      Welches junge Mädchen hatte so etwas schon - eine Zahnlücke? Im Alter von sechs Jahren wird kurz und relativ schmerzlos das dünne Zahnbändchen durchschnitten, und schon wächst die Lücke zu. Auch bei Aline wurde es so gemacht, das hatte die Zahnärztin bereits im Kindergarten angeordnet. Aber die Zahnlücke wuchs nicht zu, sie blieb und wurde zu ihrem Markenzeichen.

      Der Gedanke, Alines Lächeln mit der neckischen Zahnlücke nie mehr sehen zu können, ist von einer solchen Wucht, dass Marie ihre Hände, als müsse sie Halt suchen, in das Betttuch krallt, sie wieder losreißt, sich vom Bett hochstemmt und auf die Tote starrt. Es scheint ihr, als hätte der Mund sich ein wenig weiter geöffnet. Ihr fällt ein, dass man das Kinn von frisch Verstorbenen mit einem Band um den Kopf fixiert, so dass es nicht nach unten fallen kann mit heraushängender blutleerer Zunge.

      Sie starrt unentwegt auf Alines Mund. Nun fällt ihr eine Unebenheit auf, die nicht ins Bild gehört. Die abgebrochene Zahnecke vorn... Sie zuckt zusammen, als hätte sie jemand bei etwas Verbotenem überrascht. Hatte sie Aline nicht hoch und heilig versprochen, mit dem Zahn käme alles wieder in Ordnung?


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