Zeit der Könige. Julia Fromme
würden, denn der harte Tag hatte sie hungrig gemacht.
Der Markgraf zog es vor, mit seinen Vertrauten in seinen Gemächern zu speisen und mit Sicherheit würden dort Platten mit Braten und anderen Leckereien aufgetragen, dachte Nicolas bei sich, als er schnell seine Suppe reinschaufelte, da es in Kürze zum Abend läuten würde.
Vor der Kammer Dietrichs hieß Wolfram Nicolas stehenzubleiben.
„Du wartest hier, bis ich dich reinhole.“ Der Auensteiner klopfte dreimal lang und dreimal kurz an die Tür, dann trat er ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten.
Dietrich saß auf einem wackligen Schemel in der Nähe eines Kohlebeckens, dessen Glut im Zimmer einen schwachen Schimmer verbreitete. Unversehens zuckte eine grelle Flamme in der Dunkelheit auf. Der Graf hatte einen Fidibus in die Glut gehalten, um damit eine Öllampe, die auf dem nahen Tisch stand, entzünden zu können. Dennoch erschrak Wolfram vor dem plötzlichen Licht.
„Was ist los, Auensteiner?“, fragte Dietrich belustigt. „Dachtet Ihr, dass Euch hier die Häscher meines Bruders erwarten?
„Nein, nein“, sagte Wolfram schnell, da er Angst hatte, sich lächerlich zu machen. „Ich habe den Burschen hergebracht, Euer Gnaden. Er wartet draußen.“
„Was soll das? Wenn ihn nun jemand vor der Tür rumlungern sieht? Holt ihn schleunigst rein“, sagte Dietrich ungehalten. Der Auensteiner hatte Nerven. Dem Jungen, dessen Vater von Albrecht regelrecht umgebracht worden war, traute er nicht, obwohl der allen Grund hatte, zu Dietrich zu stehen. Doch einen vorwitzigen Wirt, der um die Ecke kommen könnte, sah er nicht als Gefahr an. Gut, dass der alte Anselm ihm wohlgesonnen war und immer ein Zimmer für ihn bereithielt.
Wolfram ging eiligst zur Tür und winkte den Knappen stumm mit einem Kopfnicken herein. Nicolas kam etwas zaghaft durch die Tür. Seit Jahren schon hatte er Dietrich nicht mehr gesehen. Als er ihm gegenüberstand, stürmten all die Erinnerungen ihrer letzten Begegnung auf ihn ein und ließen heiße Tränen in seine Augen steigen. Er schluckte mühsam und verbeugte sich vor Dietrich.
„Na, na, Jungchen“, sagte der Graf mit freundlicher Stimme. „Oder sollte ich lieber sagen, junger Herr?“, versuchte er Nicolas aufzumuntern. „Du bist wahrhaft groß geworden, seit ich dich zuletzt sah. Aber wir wollen jetzt nicht von alten Zeiten sprechen, denn ich merke wohl, wie dir diese Erinnerungen zusetzen.“
Nicolas warf Dietrich einen erstaunten Blick zu. Gab es da wirklich jemanden, der an seinem Schicksal Anteil nahm? Gespannt wartete er ab, was Dietrich von ihm wollte.
„Nun denn, Nicolas. Ich habe dir ein Angebot zu machen. Interessiert es dich, was ich dir zu sagen habe?“ Dietrich wartete die Reaktion des Jungen ab.
„Ich danke Euch, Euer Gnaden, dass Ihr mich nicht vergessen habt“, antwortete Nicolas, nachdem er den Kloß in seinem Hals hinuntergeschluckt hatte. „Und ja, ich bin sehr neugierig darauf, was Ihr mir mitteilen wollt.“
„Gut. Dann höre aufmerksam zu“, fuhr Dietrich fort. „Ich werde in wenigen Tagen das Reich verlassen und nach Palästina gehen. Du weißt sicherlich, dass mein Bruder Albrecht nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen ist.“ Der Graf zögerte einen Moment. Er sah Nicolas bedeutungsvoll an. „Und du wirst ebenso gut wissen, dass unser Gespräch hier nie stattgefunden hat, nein, dass ich nie hier in Meißen war.“
„Natürlich, Euer Gnaden. Ich habe nicht vergessen, wie Ihr zu meinem Vater standet. Ich würde Euch niemals verraten.“
„Ich weiß, Nicolas. Und deshalb habe ich dir folgendes Angebot zu machen. Du begleitest mich ins Heilige Land. Was hält dich hier schon? Was sagst du dazu, mein Junge?“
Obwohl Nicolas einen ähnlichen Vorschlag erwartet hatte, war er angesichts der Tatsache, dass ihn Dietrich für wichtig genug hielt, ihn zu begleiten, zunächst sprachlos. Er würde lieber heute als morgen aus Meißen verschwinden, doch er brachte kein Wort heraus, so sehr überwältigten ihn die Gefühle. Der Graf dachte allerdings, dass Nicolas zögern würde, sein Angebot anzunehmen.
„Und Nicolas, hast du denn irgendeinen Grund, hierzubleiben? Ich könnte so einen wackeren Burschen, wie dich, gut gebrauchen.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Euer Gnaden“, hatte Nicolas endlich seine Sprache wiedergefunden. „Natürlich hält mich hier nichts. Ich habe keine Familie, auf die ich Rücksicht nehmen müsste, kein Land und auch sonst nichts und niemanden.“ Er hörte auf zu sprechen, als er sich bewusst wurde, wie einsam doch sein Leben hier in Meißen war. „Aber meine Ausbildung zum Knappen ist noch nicht abgeschlossen, Herr.“ Das war das einzig Wichtige, weshalb er noch in Meißen ausharrte und sein Glück nicht längst woanders gesucht hatte. Doch wo sollte er auch hin. Wie er eben selbst festgestellt hatte, gab es nichts von Wert, was er besaß.
„Du irrst dich, Nicolas“, sagte Dietrich unvermittelt. „das Wichtigste, was du besitzt, ist dein Leben.“ Nicolas wurde etwas unheimlich zumute. Konnte der Graf seine Gedanken lesen?
„Ich weiß, was in dir vorgeht. Auch mir wurde mein Erbe vorenthalten, wenn auch auf andere Art und Weise als dir. Doch im Gegensatz zu dir bin ich in Gefahr, wenn ich die Mark nicht verlasse. Ich hoffe, du weißt, dass es ein großer Vertrauensbeweis ist, dass ich dich habe rufen lassen und du nun mein Versteck hier kennst?“
„Ja, Euer Gnaden, das weiß ich zu schätzen. Doch was wird Herr Tassilo sagen, wenn ich die Burg verlasse?“
„Er wird es erst erfahren, wenn du schon weit weg bist, aus der Reichweite meines Bruders und seiner Häscher. Deshalb darfst du auch zu niemandem ein Wort sagen, dass du weggehen willst. Außerdem werde ich dafür sorgen, dass du deine Ausbildung zum Knappen abschließen kannst. Du willst doch sicher ein ebenso tapferer Ritter werden, wie dein Vater, stimmt`s?“ Dietrich wartete gespannt auf Nicolas` Antwort.
Bei der Nennung seines Vaters zuckte Nicolas zusammen. Das Bild Isberts, wie er kalt und tot in seinem Sarg gelegen hatte, erschien vor Nicolas` innerem Auge. Das war der letzte Anstoß, den er noch brauchte. Er konnte an Albrecht für sein Vergehen im Moment keine Rache nehmen, aber so musste er ihm wenigstens nicht mehr zu Diensten sein. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er straffte die Schultern. Dietrich sah ihn erwartungsvoll an. Es lag ihm sehr am Herzen, wenigstens dem Jungen eine bessere Zukunft zu verschaffen, wenn er schon seinen alten Kampfgefährten hatte nicht retten können. Das war er Isbert einfach schuldig.
„Gut“, sagte Nicolas. „Ich gehe mit Euch. Ich vertraue darauf, dass Ihr mir ein guter Herr sein werdet, genauso, wie ich Euch nicht enttäuschen werde.“ Nicolas schaute Dietrich in die Augen. Der Graf schmunzelte innerlich. Doch gefiel es ihm, dass der Junge nicht an falscher Bescheidenheit litt. Er würde sicher ein guter Ritter werden. Und wer weiß, vielleicht war er selbst ja eines Tages Markgraf. Dann würde er froh sein, ihm treuergebene Kämpen zu haben.
„So sei es“, sagte Dietrich. „Dann komme morgen Abend zwei Stunden nach dem Angelusläuten mit dem Auensteiner wieder her.“ Er schaute kurz zu Wolfram, der die ganze Zeit stumm im Hintergrund gestanden hatte, ohne sich einzumischen. Jetzt verbeugte er sich leicht vor Dietrich um seine Zustimmung auszudrücken. „Du bist ohnehin sein Knappe, also wird sich nicht viel ändern“, ergänzte er lachend. „Und nun lauf, Wolfram und ich haben noch einiges zu besprechen.“
Damit wollte sich Dietrich schon abwenden, als Nicolas nochmals das Wort an ihn richtete.
„Euer Gnaden? Eines brennt mir aber noch auf der Seele...“ Er wagte nicht weiterzusprechen.
„Und was ist es, was dich noch davon abhält, aus Meißen schnellstens fortzukommen?“ Er sah, wie der Junge mit sich kämpfte.
„Mein Freund Modorok“, sagte Nicolas zaghaft. „Er ist genauso ein armer Knappe wie ich hier am Hofe in Meißen. Auch er hat keine Familie mehr, sein Vater, seine Mutter, Geschwister, alle sind sie tot. Aber er ist mein bester Freund, mein Seelenverwandter, und ich kann ihn nicht einfach hier zurücklassen, Euer Gnaden. Das würde er nicht überleben.“
Nicolas hielt den Atem an. Bestimmt hatte er sich jetzt jede Chance, seine schreckliche Vergangenheit hinter sich zu lassen, verwirkt.