Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
Gafur sann einen Augenblick nach, dann brach er heulend zusammen, vergessend, daß er ein Muselman war.
»Brahmane bist du. Ich bin deine Kuh. Bringe die Sache in Ordnung und rette meine Ehre, wenn es noch möglich ist!«
Zum zweitenmal in dieser Nacht ging Gisborne in den schweigenden Wald und rief nach Mogli. Die Antwort kam hoch oben aus den Wipfeln der Bäume und in durchaus nicht unterwürfigem Ton.
»Rede anständig«, rief Gisborne und blickte auf. »Es gibt noch Mittel genug, dich zu zähmen und dich samt deinen Wölfen zu jagen. Das Mädchen kehrt sofort in das Haus ihres Vaters zurück. Morgen wird Schadi – Hochzeit – sein nach moslemischem Brauch. Dann kannst du sie mit dir nehmen. Bringe sie jetzt zu Abdul Gafur.«
»Ich höre.« Oben in den Zweigen war das Gemurmel zweier sich beratender Stimmen. »Also, wir wollen gehorchen, zum letztenmal.«
Ein Jahr später ritten Müller und Gisborne zusammen durch das Rukh und unterhielten sich über den Dienst. Bei den Felsen, nahe des Kanjeflusses, kamen sie aus dem Wald heraus; Müller ritt um eine Pferdelänge vor Gisborne. Im Schatten eines Dornbusches kroch ein nacktes braunes Kind herum, und aus dem Dickicht, unmittelbar dahinter, äugte der graue Kopf eines Wolfes. Gisborne hatte gerade noch Zeit, Müllers Büchse hochzuschlagen, und die Kugel schlug prasselnd in das Geäst darüber.
»Sind Sie von Sinnen?« donnerte Müller. »Sehen Sie gefälligst hin.«
»Ich sehe«, erwiderte Gisborne gelassen. »Die Mutter ist irgendwo in der Nähe. Sie werden das ganze Pack in Aufruhr bringen.«
Das Gebüsch teilte sich, eine unverschleierte Frau stürzte hervor und riß das Kind an sich.
»Wer hat geschossen, Sahib?« rief sie Gisborne zu.
»Dieser Sahib. Er dachte nicht an die Diener deines Mannes.«
»Dachte nicht. Aber das mag wohl sein, denn wir, die wir mit ihnen leben, vergessen ganz, daß sie fremde Geschöpfe sind. Mogli ist unten am Fluß und fängt Fische. Will der Sahib ihn sehen? Kommt heraus, ihr, aus dem Gebüsch und macht eure Reverenz vor den Sahibs.«
Größer und größer wurden Müllers Augen. Er schwang sich von der bäumenden Stute, indes die Dschungel drei riesige Wölfe auswarf, die Gisborne umschmeichelten. Die Mutter wiegte das Kind in den Armen und drängte die Tiere beiseite, wenn sie ihr die nackten Füße beleckten.
»Sie hatten ganz recht mit Mogli«, wandte sich Gisborne an Müller. »Ich wollte Ihnen schon immer davon erzählen, aber ich habe mich so an den Burschen gewöhnt in den letzten zwölf Monaten, daß ich es ganz vergaß.«
»Ach, nur keine Entschuldigungen«, erwiderte Müller. »Hat nichts zu sagen. Gott im Himmel! ›Und mit Geistesstärke wirk' ich Wunder auch‹ – und sie werden dann wahr.«
Aus Indiens Glut
Über die Grenze.
Für die Liebe giebt es keine Kaste
und für den Schlaf kein zerbrochenes
Bett. Ich ging aus, die Liebe zu
suchen, und verlor mich selbst.
Indisches Sprichwort.
Unter allen Umständen sollte jeder, was ihm auch begegne, zu seiner Kaste, Rasse und Art halten. Der Weiße halte sich zum Weißen und der Schwarze zum Schwarzen! Giebt's dann auch auf die eine oder andere Weise einen Anstoß, so verläuft doch alles innerhalb des Gewohnten; nichts Jähes, Unerhörtes, Ungedachtes stört unsere Kreise.
Hört die Geschichte eines Mannes, der eigenwillig die sicheren Grenzen und Wege der Alltagsgesellschaft überschritt und schwer dafür büßte.
Zum ersten wußte er zu viel, und dann sah er zu viel. Zu tief ging sein Interesse für das Leben der indischen Eingeborenen, aber nun ist er geheilt.
Ganz im Herzen der Stadt liegt Amir Nath's Gasse, die von einer nur durch ein einziges vergittertes Fenster durchbrochenen Mauer abgeschlossen wird. Am Anfang der Gasse steht ein großes Kuhhaus und weiterhin sind auf beiden Seiten die Mauern ohne Fenster. Weder Suchet Singh noch Gaur Chand, die Hausbesitzer rechts und links, halten es für gut, wenn ihre Frauen und Töchter in die Welt hineinblicken. Wäre Durga Charan derselben Meinung gewesen, er wäre heute ein zufriedener Mann, und die kleine Bisesa könnte sich ihr eigenes Brot kneten. Ihr Zimmer schaute durch das vergitterte Fenster in die enge dunkle Gasse hinaus, in die niemals die Sonne schien und wo sich die Kühe im bläulichen Kote wälzten. Sie war eine Witwe im Alter von etwa fünfzehn Jahren, und Tag und Nacht betete sie zu den Göttern, sie möchten ihr einen Geliebten senden, denn das einsame Dasein gefiel ihr nicht.
Eines Tages kam ein Mann – Trejago war sein Name – auf einer planlosen Wanderung in Amir Nath's Gasse, ging bei den Kühen vorbei und stolperte unversehens über einen großen Haufen Viehfutter.
Dann bemerkte er, daß er sich in einer Sackgasse befand, und hörte hinter dem Gitterfenster ein leises Lachen ertönen. Dieses Lachen klang so einladend, daß Trejago zum Fenster trat und, da er wußte, daß die alten Gesänge aus »Tausend und eine Nacht« in solchen Fällen die besten Führer zum Ziele sind, in flüsterndem Tone jenen Vers aus »Har Dyals Liebessang« sprach, der anhebt:
Vermag ein Mann aufrecht zu stehen
im Angesicht der wolkenlosen Sonne oder
ein Verliebter vor dem Antlitz seiner Geliebten?
Wenn meine Füße straucheln, o Herz
meines Herzens, kannst du mich tadeln,
daß mich der Strahlenglanz deiner Schönheit
blendet?
Hierauf ließ sich hinter dem Gitter ein schwaches Tschink von den Armbändern einer Frau hören, und eine leise Stimme setzte den Sang mit dem fünften Verse fort:
Ach, ach! Kann der Mond zur Lotosblume
von seiner Liebe reden, wenn
des Himmels Thor verschlossen ist und
die Wolken sich sammeln zum Regenschauer?
Meine Geliebte haben sie von mir genommen
und mit den Lasttieren weggetrieben
nach Norden.
Eisenketten beschweren die Füße, die auf
meinem Herzen ruhten.
Ruf auf die Bogenschützen, daß sie sich
rüsten...
Plötzlich brach die Stimme ab, worauf Trejago langsam Amir Nath's Gasse verließ, indem er sich fragte, wer in aller Welt Har Dyals Liebeslied so hübsch im Wechselgesange fortsetzen konnte. Als er am nächsten Morgen zu seinem Amte fuhr, warf ihm ein altes Weib in seinen Wagen ein Paket. Darin befand sich die Hälfte eines zerbrochenen Ohrrings, eine blutrote Dhakblume, ein wenig bhusa, d. h. Viehfutter, und elf Kardamomkerne. Das Ganze war offenbar ein Brief, kein grobes, kompromittierendes Schreibwerk, sondern eine unschuldige, nichts verratende Liebesepistel.
Trejago verstand, wie gesagt, viel zu viel von diesen Dingen. Eigentlich ist kein Engländer im stande, Sinnbildbriefe zu übersetzen. Aber als Trejago in seinem Amtszimmer den ganzen Inhalt des Pakets vor sich ausgebreitet hatte, gelang es ihm nach und nach, das Rätsel zu lösen.
Ein zerbrochenes Ohrgehänge bedeutet überall in Indien eine Witwe, weil beim Tode des Gatten die Armbänder der Frau an ihrem Handgelenk zerbrochen werden. Trejago verstand also, was das kleine Stück Glas besagen wollte. Die Dhakblume ist je nach den andern Beithaten verschieden zu deuten, entweder als »wünschen« oder »kommen«, »schreiben« oder »Gefahr«. Ein Kardamom bedeutet Eifersucht; findet sich aber irgend ein Gegenstand mehrfach in einem solchen symbolischen Briefe, so verliert er seine sinnbildliche Bedeutung und giebt nur eine Zahl zur Bezeichnung der Zeit oder, wenn Weihrauch, Lab oder Saffran beiliegt, des Ortes an. Die Botschaft lautete daher: Eine Witwe – Dhakblume