Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
Erkenntnis –, daß die bhusa, sich auf den Haufen Viehfutter bezog, über den er in Amir Nath's Gasse gefallen war, und daß die Botschaft von der Person hinter dem Gitter ausging, die er sich also als Witwe zu denken hatte. Demnach lautete die Botschaft vollständig: Eine Witwe von der Gasse, wo der Haufe Viehfutter liegt, wünscht, daß du um 11 Uhr kommst.
Trejago warf das ganze Zeug beiseite und lachte. Er wußte, daß man im Orient nicht um elf Uhr vormittags unter den Fenstern der Geliebten zu hofieren pflegt, und daß Frauen dort nicht »auf weite Sicht« zum Stelldichein einladen. So ging er am selben Abend um elf Uhr, in eine burka[1] gekleidet, die einem Manne so gut wie einer Frau zur Umhüllung dienen kann, in Amir Nath's Gasse. Kaum verkündeten die Gongs der Stadt die bestimmte Stunde, so hob die leise Stimme hinter dem Gitter Hal Dyals Liebessang an bei dem Verse, in dem Har Dyals Geliebte seine Rückkehr ersehnt. Das Lied ist in der Ursprache wirklich ergreifend; bei der Übertragung geht das Klagende verloren. Es lautet etwa folgendermaßen:
Vom Söller send' ich einsam meinen Blick,
Nach Norden spähend, schau' des Blitzes Strahl,
Nur Abglanz deiner Spur und Siegesmal.
Ich sterb', Geliebter, kommst du nicht zurück!
Still liegt zu meinen Füßen der Bazar;
Dort ruht der Reitkamele müde Schar,
Dort Kriegsgefang'ne, jammernd um ihr Glück.
Ich sterb', Geliebter, kommst du nicht zurück!
Rauh ist des Vaters Weib; ich kann's nicht wehren.
O komm', Geliebter, eh' das Herz mir bricht!
Mein Brot ist Kummer, und mein Trank sind Zähren.
Ich sterbe bald; Geliebter, kommst du nicht?
Als das Lied zu Ende war, trat Trejago unter das Gitter und flüsterte: Ich bin da.
Bisesa war schön anzuschauen.
*
Mit dieser Nacht begann ein seltsames und so außerordentliches Doppelleben, daß Trejago sich heute manchmal erstaunt fragt, ob nicht alles nur ein Traum war. Von Bisesa oder ihrer alten vertrauten Dienerin, die ihm den Sinnbildbrief in den Wagen geworfen hatte, war das schwere Gitter vom Mauerwerk gelöst worden, so daß das Fenster nach innen niederging und nur eine quadratische Öffnung blieb, durch die ein behender Mann wohl schlüpfen konnte.
Tagsüber verrichtete Trejago mechanisch seine gewohnte Amtsthätigkeit, oder er warf sich in Salonkleidung und machte den Damen der Station seine Aufwartung, wobei er den Gedanken nicht unterdrücken konnte, wie lange sie ihn wohl noch kennen würden, wenn sie von der armen kleinen Bisesa wüßten. Nachts, wenn Stille über die ganze Stadt gebreitet war, hüllte er sich in die burka und wanderte durch die Straßen. Dann bog er plötzlich von einer Straße in Amir Nath's Gasse ein, schlich dahin zwischen den schlafenden Kühen und den blinden Mauern, und nun war er bei Bisesa und hörte die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge der alten Frauen vor der Thür des kahlen kleinen Zimmers, das Durga Charan seiner Schwestertochter zugewiesen hatte. Wer oder was Durga Charan war, danach fragte Trejago nie; und warum er niemals entdeckt und erdolcht wurde, blieb ihm verborgen, bis seine Liebestollheit vorüber war und Bisesa ... Doch wir werden ja sehen.
Bisesa war für Trejago die Quelle nimmer versiegenden Entzückens. Sorglos und leicht, von Wissen unbeschwert wie ein Vögelchen, hatte sie in ihrem streng abgeschiedenen Zimmer die verkehrtesten Vorstellungen von der Außenwelt, und ihre unglaublich naiven Äußerungen ergötzten Trejago nicht minder wie ihre Versuche, mit zärtlicher Stimme seinen Namen »Christoph« auszusprechen. Außer stande, auch nur die erste Silbe zu bemeistern, machte sie mit ihren rosigen Händchen lächerliche Bewegungen, als wollten sie helfen, den Namen herauszubringen, und dann kniete sie vor Trejago nieder und fragte ihn, ganz wie es auch eine Europäerin thun würde, ob er sie wirklich und wahrhaftig liebe. Er schwor, er liebe sie mehr als irgend ein Weib auf Erden. Und er sprach die Wahrheit.
Als dieser Liebesrausch einen Monat gewährt hatte, veranlaßten Trejago die Ansprüche seines Tageslebens, einer Dame seiner Bekanntschaft den Hof zu machen. Es ist eine einfache Thatsache, daß etwas derartiges in den indischen Städten nicht nur von den Rassengenossen des Mannes beachtet und besprochen, sondern auch in weiten Kreisen der Einheimischen mit Interesse verfolgt wird. Trejago hatte seine Umworbene zu begleiten und am Musikstand vor aller Augen sich mit ihr zu unterhalten, auch hin und wieder mit ihr auszufahren. Aber nie kam es ihm in den Sinn, daß dadurch sein ihm viel werteres Sonderleben berührt werden könnte. Doch die Neuigkeit flog, wer kann sagen wie, von Mund zu Mund, bis Bisesas treue Alte davon hörte und es ihr erzählte. Die Aufregung der Armen war so groß, daß sie ihre gewöhnlichen Haushaltungsgeschäfte versäumte und dafür von Durga Charans Weib Schläge erhielt.
Trejagos Werben dauerte noch keine Woche, so machte ihm Bisesa wegen seiner Untreue Vorwürfe. Sie wußte nichts von Verstellung und sprach gerade heraus. Trejago lachte, und Bisesa stampfte mit ihren Füßchen – Füßchen, hell wie Ringelblumen, und so zierlich, daß ein Mann sie auf einer Hand halten konnte.
Was man von orientalischer ungestümer Leidenschaftlichkeit erzählt hat, ist vielfach übertrieben und urteilslos aus trüber Quelle geschöpft, aber etwas ist doch daran, und stößt ein Europäer auf dieses Etwas, so wirkt es nicht weniger erschütternd als starke Leidenschaft in unserm europäischen Leben. In höchster Erregung drohte Bisesa, als der erste Sturm der Wut ausgetobt hatte, sie werde sich das Leben nehmen, wenn Trejago nicht augenblicklich die fremde memsahib[2], die zwischen sie getreten sei, aufgebe. Trejago wollte erklären und ihr zeigen, sie verstehe von diesen Dingen nach europäischen Begriffen nichts. Bisesa richtete sich auf und sagte nur:
Nein, ich weiß nichts davon. Aber das eine weiß ich: es ist nicht gut, daß ich dich, sahib, mir teurer werden ließ als mein eigenes Herz. Du bist ein Europäer. Ich bin nur ein schwarzes Mädchen – sie war lichter als geprägtes Gold – und die Witwe eines schwarzen Mannes.
Dann fuhr sie schluchzend fort: Aber, bei meiner Seele und bei meiner Mutter Seele, ich liebe dich. Dir soll kein Leid geschehen, was mir auch widerfahren mag.
Trejago suchte sie mit allen erdenkbaren Vernunftgründen zu beruhigen, aber ihre Aufregung wollte nicht weichen. Nur eins verlangte sie immer wieder: es müßten fortan alle Beziehungen zwischen ihnen aufhören, und er sollte sie sofort verlassen. Und er ging. Als er sich aus der Fensteröffnung niederließ, küßte sie ihn noch zweimal auf die Stirn, und er wanderte, in Sinnen verloren, heim.
Eine Woche und drei weitere Wochen vergingen ohne ein Zeichen von Bisesa. Trejago meinte, der Bruch hätte gerade lange genug gedauert, und ging, zum fünften Male in den drei Wochen, in Amir Nath's Gasse, in der Hoffnung, er werde nicht vergebens an das Eisengitter klopfen. Seine Hoffnung wurde erfüllt.
Es war gerade Vollmond, und ein Strom von Licht ergoß sich in die Gasse und auf das Gitter, das bei seinem Klopfen weggezogen wurde. Aus dem tiefen Dunkel streckte Bisesa ihre Arme in das Mondlicht aus: Beide Hände waren an den Gelenken abgeschnitten, und die Stümpfe noch nicht verheilt.
Und wahrend Bisesa schluchzend ihr süßes Antlitz zwischen die Arme neigte, stieß jemand im Zimmer ein Grunzen aus wie ein wildes Tier, und etwas Scharfes – Messer, Schwert oder Speer – fuhr gegen den in die burka gehüllten Trejago. Der Streich fehlte seine Brust, durchschnitt aber eine Muskel in der Hüfte, eine Wunde, von der ihm sein Leben lang ein leichtes Hinken blieb.
Das Gitter wurde wieder an seinen Platz gefügt, und kein äußeres Zeichen gab mehr Kunde von dem, was innerhalb des Hauses lebte, nichts war mehr sichtbar als der Mondlichtstreifen an der hohen Mauer und daneben die Finsternis der engen Gasse.
Das Nächste, woran sich Trejago, der wie toll zwischen den erbarmungslosen Mauern raste und schrie, erinnert, ist, daß er sich bei Anbruch der Dämmerung nahe beim Fluß befand, seine burka von sich warf und barhäuptig heimging.
Wie und warum das Schreckliche geschah – ob Bisesa in sinnloser