Das schmale Fenster. Friedrich Haugg

Das schmale Fenster - Friedrich Haugg


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wo nicht wirtschaftlich gearbeitet werden sollte. Ich wollte aber wissen, ob unser Mittel diese Zuordnung beeinflusst.“ Er sah das unterschiedlich starke Erschrecken seiner Gesprächspartner, je nachdem wie weit sie die Konsequenz begriffen hatten. Also Vorsicht jetzt.

      „Das Ergebnis ist ganz erstaunlich und erfreulich und auch beabsichtigt. Alle beunruhigenden oder gar Angst erzeugenden Außenreize führen zu einer abgeschwächten Aktivität in den entsprechenden Arealen. Das heißt, sie haben weniger Angst und Stress, die Ratten. Meine Ratten sind sozusagen die glücklichsten Ratten der Welt. Ich weiß, dass sich das nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen lässt. Aber da das Ergebnis so positiv ist, finde ich das sehr beruhigend. Fast, als ob ich das Mittel selbst geschluckt hätte.“

      „Na hoffentlich ist das nicht der Fall und trübt deine Urteilsfähigkeit.“ Sean war jetzt entspannter. Das lag auch daran, dass er keine Lust auf ungute Gefühle hatte und sich entschied, das alles als kleine und harmlose Spinnerei einzuordnen, die bei den zu erwartenden Gewinnen auch kostenmäßig nicht ins Gewicht fiel. Sean ließ sich ungern vom Wesentlichen ablenken.

      Wieder im Labor, holte Martin für Miriam und sich einen Kaffee und sie setzten sich in die kleine und gemütliche Besprechungsecke, mit den alten Holzstühlen und dem großen Fenster nach Süden. Schweigend erforschte jeder für sich die Details des Pilatusgipfels in der Mittagssonne.

      „Das war alles?“ Miriam unterbrach die Stille.

      „Natürlich nicht.“

      „Also?“

      „Sagen wir es einmal so: Ich habe schon ein gutes Gefühl. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich noch nicht alles gemacht habe, was möglich ist. Es hat damit zu tun, dass ich wissen wollte, wie nachhaltig die Veränderungen im Gehirn sind, wenn man das Mittel längere Zeit genommen hat. Es sieht so aus, als ob die Erscheinungen schnell wieder verschwinden. Dazu wollte ich aber mit unseren lieben kleinen Tierchen noch ein wenig herumprobieren. Aber sie haben mir keinen weiteren Test genehmigt. Sie waren sogar etwas ungehalten und meinten, es müsse einmal auch gut sein. Es gäbe keinen Fehler in den vorgeschriebenen Prozeduren, die Ergebnisse seien blendend und jetzt wird produziert, basta. Ich hätte genug anderes zu tun und solle mich auf das neue Projekt konzentrieren. In ein paar Jahren würden wir dringend einen neuen Knüller benötigen. Und, was soll ich sagen: Sie haben wahrscheinlich Recht. Ich hänge schon viel zu lange an diesem Projekt. Also werde ich jetzt sofort loslassen, ein gutes Gewissen haben und mich auf das Neue freuen.“

      „Solltest du dich tatsächlich ein wenig geändert haben? Das wäre erfreulich, weil du sonst komplett in deinem eigenen Hamsterrad eingesperrt bleibst und unerträglich penetrant wirst.“ Es klang schon ein bisschen wie mütterliche Fürsorge, was Miriam da von sich gab. Er musste sich eingestehen, dass Miriams Ermahnung ihm gut tat und erheblich zu seiner Entspannung beitrug. Er fühlte sich zum ersten Mal seit Langem wohl, ja für ein paar Sekunden sogar glücklich. Er hatte Großes geleistet und das war jetzt abgeschlossen.

      Er entschied sich sogar, den Rest des Tages freizunehmen. Das hatte er in den letzten Jahren niemals gemacht. Es war erst Mittag und der Tag war damit noch ausreichend, um etwas richtig Schönes zu tun. Er hatte doch ein einmaliges Hobby und die Möglichkeit dazu: Fliegen. Beim Fliegen und beim einsamen Wandern konnte er am besten klar denken. In Buochs stand seine Pilatus PC6, jedenfalls stand sie da vor einem Jahr. Fliegen wollte er schon immer, schon als Kind hatte er sich aus Stühlen Flugzeuge gebaut und konnte stundenlang die Welt umrunden. Seine Eltern hatten schon Sorge, dass er merkwürdig oder gar autistisch wäre. Er hatte vor etlichen Jahren seine Privatpilotenlizenz erworben und sie in den letzten Jahren durch sehr knappes Erreichen der jährlichen Mindestflugstunden nicht verloren. Spontan hatte er sich damals das gebrauchte Flugzeug gekauft. So wie es blendend weiß mit roten Streifen dastand, erkannte er klar und deutlich: Das will zu mir. Außerdem war er stolz, ein Flugzeug zu erwerben, das vorher einer der berühmten Schweizer Rettungspiloten geflogen hatte. Sogar die Skis für das Fahrwerk und Schwimmer waren mit dabei gewesen. Er hatte damals keine Ahnung, ob er es sich leisten konnte. Aber die Luzerner Kantonalbank hatte den Betrag ohne Nachfrage an Pilatus Aircraft überwiesen und auch nicht gezuckt, als er den teuren Wartungsvertrag abgeschlossen und den Hangarstellplatz gemietet hatte. Also war da wohl genug Geld. Martin hatte nicht das geringste Interesse an Geld und freute sich nur, dass so etwas durch seine Tätigkeit bei Bionik Health ermöglicht wurde. Er zahlte auch alle anderen Ausgaben so gut wie nie mit Bargeld, sondern nur mit Karte. Sie war für ihn der Goldesel, der ihm immer und klaglos das ermöglichte, was er gerade wollte. Nicht, dass er einen aufwändigen Lebensstil führte. Er lebte ziemlich zurückgezogen in seinem sonnigen Appartement in Stansstad am Bürgenstock, aß wenig, trank so gut wie nicht und veranstaltete keine Partys. Smalltalk war ihm ohnehin zuwider und strengte ihn außerdem mehr an als seine Arbeit. Mit seinem Auto pflegte er das berühmte Baseler Understatement, bei dem sogar der Vorstandsvorsitzende mit einem Subaru Justy in die Firma fuhr. Genau dieses Auto war perfekt für ihn und diese Gegend. Wichtig war nur der Allradantrieb und die Zuverlässigkeit.

      Es waren bei normalem Verkehr fünfzehn Minuten Fahrt zu seinem Appartement. Auch ein Porsche hätte ihn nicht schneller ans Ziel gebracht. Post war noch keine da, was er sehr angenehm empfand, da er auch Störungen durch Briefe jeder Art hasste. Die einzige Kommunikation, die er akzeptieren konnte, waren Emails. Hier bestimmte er den Zeitpunkt, überwand sich einmal am Tag und schaute sie alle an, beantwortete sie sofort und schaltete dann wieder zurück in seinen eigenen, freien Gehirnmodus. Bisher hatte er sich auch konsequent geweigert, ein Wischtelefon zu benutzen. Er bedauerte die Sklaven der modernen Kommunikation zutiefst. Durch das Marketing konditioniert, fühlten sie sich wertlos und unwichtig, wenn sie nicht dauernd auf das smarte Gerät glotzten und scheinbar immer aktuell mit der Welt verbunden waren. Auch dachte er bei den ersten Begegnungen mit solchen Menschen, dass die Zahl der paranoiden Selbstgespräche drastisch zugenommen habe. Bis er merkte, dass diese Erscheinung das war, was man früher telefonieren nannte. Der klobige Hörer ließ vormals diese Tätigkeit klar erkennen. Der Knopf im Ohr war weitgehend unsichtbar, was die Begegnung mit solchen Menschen sehr merkwürdig machte. Zeit zum Denken konnten die ohnehin nicht haben. Und sie merkten gar nicht, dass all die Geräte, die angeblich Zeit sparen und die Effizienz erhöhen sollten, ihnen alle Zeit bis auf die letzte private Sekunde raubten, sie rund um die Uhr zu Sklaven ihrer Arbeitgeber oder Kunden machten, die wiederum fälschlicherweise dachten, sie könnten aus den Menschen mehr herausholen und dabei nicht berücksichtigten, dass gedankenfreie Menschen nichts brachten, egal wie lange man sie zur Verfügung hatte. Er selbst hatte schon auch ein Handy und sah den Nutzen darin, keine verdreckte Telefonzelle suchen zu müssen, nicht auf den Anruf verzichten zu müssen, wenn er kein Kleingeld oder keine Telefonkarte zur Verfügung hatte, sich im Ernstfall von überall bemerkbar machen zu können oder, wenn er einen Anruf erwartete, nicht an den vom Anrufer erwarteten Aufenthaltsort gebunden zu sein.

      Er zog sich um. Es war wie das Ablegen seiner Firmenpersönlichkeit und das Wiederaufnehmen seines eigentlichen Ichs. Jeans und Polohemd passten besser zu ihm als Anzug, feines Hemd und Krawatte. Seine Art zu denken änderte das nicht, aber die vielen Verhaltensweisen und Verstellungen, die er Industrieschauspielerei nannte, und ohne die eine Zusammenarbeit unterschiedlicher Menschen wahrscheinlich nicht möglich wäre, konnte er jetzt beiseite legen. Er durfte selbst entscheiden, ob und mit wem er über was reden wollte. Er brauchte nicht alle politischen und sozialen Zusammenhänge zu berücksichtigen, wenn er etwas sagte, weil er in seiner freien Zeit möglichst nur mit Leuten redete, von denen er nicht abhängig war. Und wenn er Lust hatte, ein Gespräch zu beenden, so tat er das.

      Sein Magen meldete Nahrungsmittelbedarf. Im Kühlschrank fand er ein Glas mit einem Krabbencocktail. Knäckebrot war auch da und Kaffee ließ sich gerade noch selbst machen. Er grinste ein wenig über die Zusammenstellung. Aber auch das empfand er als Freiheit. Essen, nur orientiert an der Randbedingung, was erreichbar war und was er davon gerade am liebsten wollte. Ehrlich war diese Freiheit nicht, denn er vergaß gerne, dass sie nur möglich war, weil eine fleißige und freundliche Haushälterin unauffällig alles in Ordnung hielt und die Dinge herbeischaffte, von denen sie nach Jahren zu wissen glaubte, dass er sie schätzte.

      Von seinem Sofa aus sah er rechts das Ufer des Sees und das Strandbad mit vielen beweglichen bunten Punkten. Es war Hochsaison und Kaiserwetter und alles


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