Das schmale Fenster. Friedrich Haugg

Das schmale Fenster - Friedrich Haugg


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Er setzte sich wieder. Dann schätzte er ab, ob noch Zeit für einen Rundflug war, sein ursprüngliches Vorhaben. Zehn Minuten bis zum Flughafen, eine halbe Stunde, um alles klar zu machen, also kein Problem. Sonnenbrille und Jacke, mehr benötigte er nicht, dann fuhr er los.

      Am Hangar sah er schon von weitem die riesige Gestalt von Urs. Alle Schweizer aus der zentralen Schweiz hießen Urs oder Beat. Und Urs war ein zentraler Schweizer. Da er für viele reiche Leute die Flugzeuge in Schuss hielt, hatte er sich angewöhnt, hochdeutsch oder englisch zu sprechen. Andernfalls hätte ihn selbst Martin nicht verstanden, obwohl er schon lange in der Schweiz lebte. Das Schweizerisch wurde in der Linie zwischen Zürich, Bern und Wallis von Kilometer zu Kilometer unverständlicher. Und bereits in der Zentralschweiz, also den Kantonen Schwyz, Uri oder wie hier Nidwalden war es schon eine echte Herausforderung zu kommunizieren.

      Ein angenehm anheimelndes Gefühl überkam Martin. Nicht nur, dass er die herzliche Art von Urs sehr schätzte, sondern er verband mit ihm alles, was er an der Schweiz liebte. Mögen seine deutschen Landsleute schimpfen wie sie wollten. Eine so dichte Vielfalt von Naturschönheiten gibt es wohl nirgends auf der Welt. Und dass Deutsche das Steuerzahlen vermieden, war doch nicht der Fehler der Schweizer und überhaupt: Steuern zahlen in der Schweiz, ein Traum. Nicht wegen des günstigen Steuersatzes, der war ihm eigentlich egal, sondern weil er sich nicht darum zu kümmern brauchte. So unglaublich es für einen Deutschen klingen mag, die Wohngemeinde machte für ihn die Steuererklärung – völlig kostenlos. Gut, mit einem Steuerberater könnte man noch etwas mehr herausholen, aber bei den lächerlichen zehn Prozent, die er zahlen musste, lohnte die Mühe nicht. Das einzige, was ihn störte, war, dass er noch kein Schweizer sein durfte. Er hatte die sogenannte befristete B-Genehmigung, die es ihm gestattete, hier zu wohnen, solange er Arbeit hatte. Er musste erst begreifen, dass es gar keine Schweizer Staatsbürgerschaft im üblichen Sinne gab. Eine Gemeinde musste den Menschen als Bürger aufnehmen und sie war für alle seine sozialen Bedürfnisse verantwortlich. Diese Heimatgemeinde musste nicht die Gemeinde sein, in der er wohnte und arbeitete. Nicht leicht zu begreifen, aber unglaublich menschenfreundlich und praktisch. Dass die Aufnahme an Bedingungen gebunden war, die nicht in einem Gesetz standen, sondern im Regelfall eher etwas mit Geld oder Berühmtheit - am besten beides - zu tun hatten, ignorierte er. Das etwas schwer durchschaubare System erinnerte ihn an eine zurückliegende Merkwürdigkeit. Seine damalige Lebensgefährtin Susanne beschloss zu ihm zu ziehen. Eine Aufenthaltsgenehmigung war nicht zu bekommen. Aber sie konnte ja als Urlaubsgast bei ihm ohne weiteres wohnen. Er hatte noch sein Auto aus Deutschland mit deutschem Kennzeichen. Dann lernte er, dass es nicht erlaubt sei als Mensch mit Schweizer B-Genehmigung ein deutsches Auto zu besitzen. Also vermachte er das Auto Susanne. Jetzt war alles rechtens, weil sie als Gast ja mit ihrem Auto fahren durfte. Dann wollte er für sie ein zweites Auto haben und kaufte es. Was er nicht bedachte, war, dass er dieses Auto zwar besitzen, aber ohne Schweizer Führerschein nicht fahren durfte. Susanne durfte es aber, sie lieh sich das Auto ja von Martin. Er wiederum durfte sich sein altes Auto von Susanne leihen, weil es ihm nicht gehörte. Klingt ein wenig schräg und ist es wohl auch, hatte aber eine gewisse Logik und irgendwie sympathisch war es auch. Im Ausarbeiten ausgeklügelter Gesetzte und Verordnungen sind die Schweizer sogar noch den Deutschen haushoch überlegen. Seit zweieinhalb Jahren war Susanne wieder in Deutschland, sein altes Auto auch, er hatte mittlerweile den Schweizer Führerschein und konnte jetzt sein eigenes Auto fahren.

      Urs begrüßte ihn herzlich wie immer – das letzte Mal vor einem Jahr.

      „Wie is' es Martin, hast du eine gute Zeit gehabt?“

      „Alles bestens, mein Lieber. Und bei dir?“

      „Ist schon gut alles. Willst Deinen Vogel sehen, oder?“

      „Ich hab' ja ein schlechtes Gewissen, hab' mich lange Zeit nicht drum gekümmert. Geht es ihm gut?“

      „Aber natürlich. Hier verkommt nichts und was ist schon lang. Komm mit!“

      Da stand die PC6 und wirkte auf Martin geradezu erwartungsvoll, als ob sie sagen wollte: Na endlich, kann's losgehen? Es war eine merkwürdige Eigenart von Martin, in allen Gegenständen, vor allem so schönen und komplexen, eine Seele zu vermuten. Er tätschelte die Haut seines Fliegers und sagte tatsächlich laut: „Ist schon gut, ich bin da und wir machen jetzt was“. Urs war davon keineswegs komisch berührt. Vielleicht kannte er zu viele spleenige Menschen, um sich noch zu wundern. Oder er sah es genauso wie Martin.

      Martin enterte das Cockpit, sah mit Freude die vertrauten Instrumente und Hebel und erweckte sie zum Leben, ging die Checkliste durch und nickte Urs anerkennend zu. Urs streckte beide Arme aus und hielt den Kopf schief, als wollte er sagen: Was hast du denn erwartet?

      Keuchend drehte der Anlasser die silberne Luftschraube ein paar Mal um und sofort sprang der Motor mit metallischem Knattern an. Nach wenigen Sekunden wurde der Lauf gleichmäßig, ohrenbetäubend im offenen Cockpit. Er spürte den Wind, wie er am Rumpf vorbei wirbelte und die Flügel erzittern ließ. Eine unglaubliches Gefühl der eigenen Stärke und Überlegenheit. Er schloss die Tür und gleich wurde es deutlich leiser. Dann fiel ihm ein, dass er keinen Flug angemeldet hatte. Er setzte sich den Kopfhörer auf und funkte den Tower an.

      „Was gibt’s Martin?“ Hier war kein internationaler Großflughafen, sondern ein familiärer Betrieb. Es gab auch kein ILS, also kein Instrumenten-Lande-System, die Piloten mussten schon selber fliegen und landen können.

      „Kann ich einen Rundflug machen? Ich würde gerne über Andermatt und um die Jungfrau und dann über den Sarner See wieder zurückkommen. Höchstens eine halbe bis Dreiviertelstunde.“

      „Lass mal sehen...Geht klar, Martin, um die Zeit kommt keiner. Aber bleibe unter 3500 Meter. Wetter und Sicht sind perfekt. Du hast die Startfreigabe, aber flieg gleich los, sonst gibt’s Konkurrenz.“

      Ja, dachte Martin, so geht’s auch. Schon dass er nicht formal und englisch mit dem Tower sprechen musste, empfand er als angenehm und anheimelnd. Er nullte den barometrischen Höhenmesser, obgleich er den gar nicht brauchte. Seit auch im Fliegen das GPS Einzug gehalten hat, war Navigation auch hier keine Kunst mehr, sondern nur eine Frage des Hinschauens und Vertrauens in die Computertechnik. Wie ein alter Hase prüfte er noch einmal die Querruder, Höhen- und Seitenruder und betätigte die Bremsen, um den Druck zu spüren, dann zeigte er Urs Daumenhoch, der ihm grinsend genauso antwortete, schob den Schubhebel ein wenig nach vorne und steuerte mit dem Seitenruder sein Flugzeug zur Startbahn. Wegen des leichten Ostwinds war der Start einfacher, weil er über den See verlief und keine Erhebungen in unmittelbarer Nähe waren. Den Schubhebel ganz vorne, setzte sich die PC6 rüttelnd in Bewegung. Fast ohne Seitenwind ging alles wie von selbst. Er ließ das Seitenruder frei und schon nach zweihundert Metern war die Abhebegeschwindigkeit erreicht und damit genug Strömung um den Flügel, um das ganze Flugzeug samt seiner Fracht zu tragen. Ein ganz geringer Zug am Steuerknüppel und augenblicklich war das lästige Rattern der Piste verschwunden. Das Flugzeug schwamm weich über den Boden hinweg und schon sah er vor sich den See. Kurz darauf kam der Augenblick, den er immer wieder beunruhigend fand. Die schnelle Bewegung der Erde unter ihm wurde aufreizend langsam, als ob das Flugzeug stehen bleiben wollte. Die Instrumente teilten ihm aber Beruhigendes mit. Außerdem wusste er, das das nur eine Täuschung des visuellen Eindrucks in seinem Gehirn war, ein Effekt der optischen Geometrie. Mit einem leichten Seitwärtsdruck auf den Knüppel und ein bisschen Anziehen betätigte er die Querruder und ein wenig das Höhenruder, was zur Folge hatte, dass sich seine Maschine nach rechts neigte und eine weite Kurve beschrieb. Jetzt war er in seinem Element.

      Das Tal der Reuss glitt unter ihm hinweg und er sah bald den bekannten Grundriss von Andermatt, der gerade durch Baumaßnahmen eines orientalischen Scheichs stark verändert wurde. Jetzt musste er ein wenig konzentriert die Rechtskurve einleiten, um das Seitental zu finden, dass ihn zum Furkapass führen sollte. Er sah den Talort Galenstock und die Furkastrasse, die sich anmutig am Berghang knapp unter der Schneegrenze hinschlängelte. Den Sattel an der Furkapasshöhe überquerte er in niedriger Flughöhe und gleich danach fiel das Gelände steil ab. Dieser Augenblick war atemberaubend und erinnerte ihn an eine wunderschöne Szene aus Jenseits von Afrika, wo Robert Redford Meryl Streep damit verzauberte. Er beschloss nun, einfach geradeaus zu fliegen und musste dafür aber kräftig steigen. Er sah halb links den Totensee, dann den


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