Das schmale Fenster. Friedrich Haugg

Das schmale Fenster - Friedrich Haugg


Скачать книгу
da eine eigene, geheime Produktionsstätte geben.

      Das Appartement, das Martin gemietet hatte, war eines der home sharing – Wohnungen von Happymag, dem einzigen größeren Gebäude in Sörenberg. Die Eigentümer eines der Zwei-Wochen-pro-Jahr-Anteile konnten ihren Anspruch auch untervermieten. Er hatte allen, auch Miriam, verschwiegen, dass er in einem kleinen Seitental, nur einen guten Kilometer hinter der Jugendherberge von Salwidili, eine nicht mehr bewirtschaftete Almhütte ohne Zufahrtsstraße langjährig gepachtet und diesen völlig einsamen Platz für sich hergerichtet hatte. Es gab fließendes Wasser, weil ein Bächlein neben der Hütte vorbeifloss und eine Badewanne, die das Wasser nach einem Sturz über einen größeren Stein selbst hergestellt hatte. Ein wenig Strom wurde erzeugt von einem Solarpanel und gespeichert in ein paar Akkus, die ihm Licht und Satelliten-Fernsehen ermöglichten. Die Heizung war zentral für den einzigen Raum in Form eines alten, holzbefeuerten, Herds mit Warmwasserkessel wie in einem alpenländischen Bauernhofmuseum. Holz gab es rundum genug. Er war schon lange nicht mehr dagewesen, schätzte aber die potentielle Möglichkeit, sich vollständig zurückzuziehen. Da das Tal am Anfang eines großen Naturparks lag, streifte nicht einmal ein Jäger an der Hütte vorbei. Möglicherweise wusste auch niemand mehr, dass da überhaupt eine Hütte war. Da die Schweiz genügend schöne Täler hatte, konnte sie es sich leisten, dieses Tal einfach zu vergessen.

      Er hatte kurz überlegt, ob er Miriam zur Hütte mitnehmen sollte, aber diesen Gedanken gleich wieder fallen gelassen. Das wäre entschieden zu intim gewesen. Die Happymag - Wohnung hatte zwei Schlafzimmer, weil die Standardfamilie zwei Kinder hatte. Das war praktisch, weil dann nicht durch die Diskussion über den Schlafplatz zweideutige, kritische Situationen heraufbeschworen wurden. Er bot Miriam das größere Zimmer an und richtete sich selbst ein. Es war schon später Nachmittag und so begnügten sie sich mit einem Spaziergang in der verschneiten Welt, die die eigentliche Hässlichkeit des Ortes gnädig verbarg. Einmal das schmale Tal hinauf bis zur Rothornbahn und dann wieder hinunter. Einen richtigen Rundweg gab es nicht. Am Ortsanfang, an der für Jugendliche aufwändig präparierten Piste mit Half Pipe und Schanzen, sozusagen dem modernen Teil von Sörenberg, fanden sie ein alpin eingerichtetes Lokal mit Disko-Anmutung, aber ganz netten Plätzchen zum Essen und Verweilen. Sie aßen Käse-Fondue in Ermangelung einer wirklichen Alternative und gingen dann schwer gesättigt, aber zufrieden in ihre Wohnung. Es war eine sternenklare Nacht geworden und sie setzten sich dick in Decken eingehüllt auf den Balkon und tranken schon wieder – für Martin völlig ungewohnt – Alkohol, diesmal aus dem dreizehn-prozentigen Anteil in einem herb-fruchtigen Rotwein. Dazu rauchten sie kubanische Zigarren, deren Rauchschwaden einen betörenden Duft von luxuriöser Gemütlichkeit verbreiteten. Die Sterne funkelten und die Milchstraße breitete in der klaren, trockenen Luft ein durchsichtiges Seidenchiffonband über den Himmel. Am Horizont stieg gerade riesengroß der fast volle Mond in prächtigem Orange auf. Martin konnte es nicht lassen.

      „Weißt du eigentlich, warum der Mond am Horizont viel größer aussieht, als wenn er oben am Himmel steht?“

      Miriam schreckte aus ganz anderen Gedanken auf.

      „Nein“, antwortete sie höflich. Ihr vollkommenes Desinteresse nicht bemerkend, sah sich Martin ermuntert, eine Erklärung abzugeben. Er berichtete, dass das Problem lange ungelöst war und auch heute noch Gelehrte entzweien würde. Aber, dass es mittlerweile für ihn klar sei, dass es sich um eine reine Täuschung des Gehirns handelte, das entgegen der Wirklichkeit davon ausging, dass die Wölbung des Himmels stark abgeflacht sei und es Gegenstände am Horizont viel weiter weg vermutete und in Einklang zu bringen versuchte, mit Gegenständen bekannter Größe wie Bäume oder Häuser. Da alles das im Zenit fehlte, würde dort der Mond zur wahren optischen Größe schrumpfen. Sie könne das am besten feststellen, wenn sie ein Foto des aufgehenden Mondes machen würde oder den Mond durch die zu einem kleinen Loch gewinkelten Finger betrachten würde. Höflich machte Miriam diese Geste nach.

      „Tatsächlich. Das ist ja großartig.“ Diese Antwort ließ ihn endlich an ihrem augenblicklichen wissenschaftlichen Interesse zweifeln. Er unterließ es, die Täuschbarkeit des Gehirns mit weiteren Beispielen zu belegen, um dann bei seinem Lieblingsthema, der evolutionären Erkenntnistheorie zu landen. Er musste anders weitermachen oder schweigen. Er wollte gar nicht als interessanter Gesprächspartner dastehen oder sie gar als Mann beeindrucken. Er wollte, dass sie sich wohlfühlte, spürte geradezu eine Verantwortung, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Er fand Miriam ungemein sympathisch und genoss ihre bloße Anwesenheit. Ihre Attraktivität nahm er mit seinem Sinn fürs Schöne wahr wie ein gutes Gemälde oder das gelungene Design eines Möbelstücks.

      „Schau dir mal die Sterne an. Was mich am meisten dabei in Staunen versetzt, ist die Tatsache, dass wir nicht nur in den Raum schauen, sondern genauso in die Zeit. Das Licht oder besser die Signale eines Sterns sind die vor einer Stunde oder die vor Tausenden von Jahren. Wenn wir genauer sehen könnten, würde wir jetzt gerade das Treiben auf einem Planeten vor vielen Jahrhunderten oder Millionen Jahren beobachten. Wir wissen nicht einmal, ob er jetzt noch existiert.“ Er spürte, ihr Interesse war geweckt.

      „Heißt das, dass die, wenn sie uns sehen könnten, auch nur das sehen, was bei uns vor – sagen wir mal - zweitausend Jahren geschah?“

      „Genau. Wegen der absoluten Grenze der Lichtgeschwindigkeit gibt es somit auch nicht die geringste Möglichkeit mit denen zu kommunizieren. Wenn wir eine Nachricht empfangen würden, könnte die schon zum Beispiel hundert Jahre alt sein. Dann antworten wir und das dauert dann wieder hundert Jahre. Ich weiß nicht, ob sie damit etwas anfangen könnten. Ein richtiges Gespräch würde sich dann ordentlich hinziehen.“

      „Wie mache ich es aber, dass ich das Weltall so erkennen kann, wie es jetzt gerade ist?“

      „No way. Einstein hat diese Frage so beantwortet, indem er schlicht feststellte, dass Gleichzeitigkeit kein sinnvoller Begriff ist und man ihn einfach weglassen sollte.“

      „Das versteh' ich nicht.“

      „Wenn du gesagt hättest, du verstehst das, hättest du entweder gelogen oder du wärst ein Angeber oder kein Mensch. Aber Gott sei Dank trifft das alles nicht zu. Unser Gehirn kann das nicht 'verstehen' oder begreifen. Umso erstaunlicher ist es, dass es in der Lage ist herauszufinden, dass die Welt anders ist.“

      „Wow. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Mein Gehirn hat da aber nichts herausgefunden.“

      „Weil du dich mit anderen Dingen beschäftigst, zum Beispiel wie Salzsäure mit aromatischen Kohlenwasserstoffringen umgeht. Das ist auch nicht von Pappe.“

      „Woher weißt du das alles? Du bist doch auch nur Chemiker.“

      „Wir beeinflussen Gehirne, also interessiert mich dasselbe.“

      „Meins auch?“

      „Na ja, so wissenschaftlich eigentlich nicht. Mehr das Gesamtkunstwerk.“

      „Ist das jetzt gut oder schlecht?“

      „Also heute Abend ist das hundertprozentig gut und darauf sollten wir noch eine Flasche aufmachen.“

      „Ich muss dir etwas gestehen“, Miriam klang eher verträumt, so dass er nicht befürchtete, sie würde den USB-Stick zur Sprache bringen. „Ich bin ein komischer Mensch. Wenn ich alleine bin, könnte ich Gesellschaft brauchen, aber in Gesellschaft fühle ich mich eigentlich noch mehr alleine und vermittle das ohne böse Absicht auch anderen. Ich sage dann zum Beispiel: 'Ich bin gerne mit mir alleine' und stoße damit manchmal Leute vor den Kopf, obwohl ich niemanden verletzen will. Wenn ich wirklich alleine bin, käme mir dieser Satz gar nicht in den Sinn. Verstehst du das?“

      „Nur zu gut. Ich bin froh, dass du den Satz heute nicht gesagt hast.“

      „Bei dir ist es anders. Du bist einfach da und störst mich in keinster Weise.“

      Sie schliefen lange und frühstückten ausführlich und wechselten dabei kaum ein Wort. Aber es war wunderschön und nichts war peinlich.

      Ein paar Schritte vom Haus mit den geschulterten Skiern und sie standen vor der Gondelbahn auf die Rossweid. Martins Ausrüstung war genauso modern wie Miriams. Mit dem Unterschied, dass sie mit den taillierten Carving


Скачать книгу