Das schmale Fenster. Friedrich Haugg

Das schmale Fenster - Friedrich Haugg


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und musste dafür auf fast 4000 Meter steigen, um den Sattel zu überwinden. Das war eine Höhe, die im nicht besonders gut bekommen würde. Die PC6 hatte keine Druckkabine. Er fühlte sich mulmig, aber mehr, weil er es schon erwartete und ließ sich gleich danach wieder einige Hundert Meter fallen. Unmittelbar befand er sich in einer anderen Welt mit scharfen, dunklen Felsspitzen, gleißendem Schnee und zerklüfteten Eisbrüchen, lebensfeindlich und großartig. Er näherte sich dem grauen Band des Aletschgletschers und folgte ihm nach oben. Ein starker Drang stieg in ihm auf, hier zu landen. Aber er hatte die Ski nicht angebracht und außerdem war er noch nie auf einem Gletscher gelandet. Seine Vernunft sagte ihm, dass er das auch lieber lassen sollte.

      Am Konkordiaplatz und dem Ewigschneefeld tummelten sich viele kleine Punkte. Menschen, die mit der Jungfraubahn die Höhe erklommen hatten und die Touristenattraktion auslebten. Er fragte sich, ob die sich alle in der Höhe wirklich wohl fühlten. Aber wieder heil unten angekommen, würden sie einen Grund zum ausgelassenen Feiern haben. Er musste noch einmal nach oben. Es schien ihm, als ob er die Station am Jungfraujoch fast streifen würde, dann fiel der Berg wieder jäh ab. Noch einmal dieses unglaubliche Gefühl. Vor ihm und unter ihm die kleine Scheidegg, der Männlichen und dahinter schon der Thuner See. Rechts die Eigernordwand, die in ihm ein Gefühl des Grauens hervorrief.

      Sein Vater, der selbst Flieger war, hatte ihm immer gesagt, es gäbe Flieger und Fußgänger. Er hatte nur ein paar Hebel zu betätigen, um all die Schönheit in ein paar Minuten ohne die geringste Anstrengung zu genießen. Die normalen Menschen mussten gehen, steigen, klettern, schwitzen, leiden, um nur einen Bruchteil davon in vielen anstrengenden Stunden wahrnehmen zu können. Er musste aber zugeben, dass das Gefühl „danach“ bei den Fußgängern sicher wesentlich euphorischer war als seines, wenn sie es ohne Schäden erleben konnten. Erst einmal schämte er sich nicht seines Privilegs und stürzte sich, immer schneller werdend auf Interlaken herunter. Er sank bewusst bis auf 600 Meter, um über den Brienzer See so niedrig wie möglich zu rasen. Von hier musste er links das Seitental erwischen, das zum Lungerer See und dann über den Sarner See nach Hause führte. Um sich einen Überblick zu verschaffen, stieg er wieder auf 1200 Meter. Er vermied es bewusst, auf die bunte Landkarte seines Garmin-GPS zu schauen, die ihm, ohne Blick nach außen, mitgeteilt hätte, wo er sich augenblicklich befand. Er wollte nach alter Art und Sicht navigieren. Der See vor ihm hätte schon der Lungerer See sein müssen. Er sah heute aber wesentlich kleiner aus. Auch das Tal hatte sich verändert. Also verflogen und das, obwohl er die Gegend gut kannte. Alle Berge sahen gleich aus. Er war nicht beunruhigt, er brauchte ja nur das GPS anzuschauen. Das verbot ihm aber sein Ehrgeiz. Er war wohl zu weit nach Osten geraten. Also ein Linksschwenk nach Norden und dann sehen, ob er etwas Bekanntes entdecken würde. Nach kurzer Zeit sah er die Umrisse des Sarner Sees links und des Alpnacher See rechts. Also alles bestens. Er war stolz und flog in einer leichten Rechtskurve ins Tal und steuerte direkt auf eine Flugzeugpiste zu. Er wusste genau, was es war und simulierte einen Anflug, gab aber dann wieder Gas und flog darüber hinweg. Er freute sich diebisch, dass er garantiert von den Wachhabenden des Militärflugplatzes Alpnach entdeckt wurde und vielleicht ein Zucken zum Knopf der Alarmanlage ausgelöst hatte. Alles blieb ruhig. Kein Alarmstart von Abfangjägern, nichts rührte sich. Aber er hätte es auch gar nicht mehr sehen können, denn er musste eine scharfe Rechts-Links-Kombination um einen Hügel fliegen, um die kurze Piste von Buochs gerade anzufliegen. Wie immer kam ihm die Piste viel zu klein vor und er sich viel zu hoch, um zu treffen. Aber es gelang auch heute und er rollte gelassen zu seinem Hangar zurück. Nicht viel los, zwei Cessna Citation Business Jets standen auf Parkposition und einige kleine einmotorige Privatflugzeuge. Kein Mensch war zu sehen. Er tauschte mit Urs den Platz, der sein Flugzeug sicher in den Hangar bugsierte.

      „Das wird nicht mehr lange so gehen.“

      „Was meinst du?“ Martin hatte keine Ahnung, was Urs sagen wollte. Hatte sich das Militär schon beschwert?

      „So gemütlich wie jetzt bleibt's nicht mehr. Deine Firma will uns als Business-Drehscheibe nutzen. Deine Chefs haben keine Lust mehr, immer erst mit dem Auto nach Bern oder Zürich zu fahren. Sie haben sich schon zwei neue Business Jets bestellt und hier wird alles umgebaut, mit Startbahnverlängerung, ILS und allem was dazu gehört. Auch der Tower wird mit neuen Leuten besetzt. Professionelle Flugsicherer, weißt schon.“

      „Woher weißt du das, so plötzlich?“

      „Es kam gerade ein Rundschreiben. Ich denke mal, ich kann bleiben, aber für viele wird alles anders. Und nicht gerade besser.“

      „Du meinst, dass mein Flug eben dann auch nicht mehr so geht?“ Martin ahnte nichts Gutes.

      „Ganz bestimmt nicht so“, grinste Urs, „Da brauchst du schon erst eine Anmeldung ein paar Tage vorher mit genauer Bezeichnung der Route und des Grundes und alles wird auf Einhaltung der Regeln überwacht werden.“ Er grinste Martin dabei verschwörerisch an. Als ob er wusste, dass Martin so ziemlich alles gemacht hatte, was unerlaubt war.

      „Das war's also dann mit der Freiheit über den Wolken. So ein Mist.“

      „Genau so ist es. Alles wird perfekter, und alles wird enger. Das ist der Lauf der Zeit.“

      Als Martin nach Hause fuhr, konnte er das glückliche Gefühl über sein Flugerlebnis nicht aufrecht halten. Sogar der Himmel schien sich einzutrüben. Aber es war nur, weil die Sonne hinter den Bergen verschwunden war.

      Zwei

      Weihnachten in Luzern. Ein Traum in Licht, Zuckerguss, Zimt, Weihrauch, Bratwürstchen und freundlichen, geschäftigen Menschen. Und leise rieselte der Schnee, tagelang und unaufhörlich. Was zur Folge hatte, dass der Verkehr zusammenbrach und Martin mehr als eine Stunde bis zum farbenfroh illuminierten Kristallpalast benötigte, nur um auf Menschen zu treffen, die entspannt bis überschwänglich lustig waren und die Arbeit Arbeit sein ließen. Das bunte Völkergemisch der Firma führte zu unterschiedlichen Auffassungen über den Sinn des Weihnachtsfests. Und wäre nicht allgemeiner Weihnachtsfriede hätte es wohl auch Spannungen gegeben. Wenigstens führte der stockende Verkehr dazu, dass es mittlerweile halb elf war und Martins wahrer Geist unter die äußere Hülle geschlüpft war. Miriam war im angeregten Gespräch mit einigen bedeutenden Hierarchen, die er nur vom Sehen oder von einigen wenigen Besprechungen wiedererkannte. Er war froh, dass es unhöflich gewesen wäre zu stören und verkroch sich in eine Ecke in der Hoffnung, dem unvermeidlichen Weihnachtspunsch zu entgehen. Eine Nikolausmütze mit hübschem Allerweltsgesicht, das er schon einmal gesehen hatte oder auch nicht, drückte ihm ein Glas in die Hand. Mechanisch prostete er ihr zu und konnte bereits nach dem ersten Schluck den Aufenthaltsort seiner Magenschleimhäute präzise orten. Gut, dass er sich rechtzeitig mit Tabletten gegen Sodbrennen eingedeckt hatte.

      Das unvermeidbare Wiederkehren dieser sogenannten, stillen Zeit hatte er oft genug erlebt, um es noch zu genießen. Vor allem waren seine Erinnerungen daran überwiegend negativ. Nicht nur, dass Susanne sich, einem Naturgesetz folgend, genau in dieser Zeit mit ihm endgültig verkracht hatte. Er wollte nämlich gerade die sich eröffnende Zeit nutzen, um eine Idee auszuarbeiten, die die Welt retten würde und sie kam an seinen Schreibtisch und meinte, dass doch jetzt eine gute Gelegenheit wäre, die Mülleimer gründlich sauber zu machen. Viel prägender für ihn war, dass in früheren Zeiten die weihnachtliche Ruhe und Besinnung immer mit vollständiger seelischer und körperlicher Erschöpfung begann. Alle Firmen freuten sich so sehr auf Weihnachten, dass sie auch alles dafür taten, dass keine Sorgen und liegengebliebenen Arbeiten den Genuss der feierlichen Zeit schmälerten. Was mit steter Regelmäßigkeit zu einer jedes vernünftige Maß überschreitenden Hektik und in den kollektiven Burn Out führte. Es muss als ein gesellschaftlich evolutionärer Fortschritt bewertet werden, dass die meisten Firmen dazu übergegangen waren, das Geschäftsjahr nicht mit dem Kalenderjahr zusammenfallen zu lassen. Für Martin war diese Erleichterung jedoch kein essentieller Vorteil. Die fehlende Hektik wurde jetzt durch ausgiebige Weihnachtsfeiern auf jeder organisatorischen Ebene und für jede Projektgruppierung substituiert. Da der Smalltalk auf seiner Negativliste sehr weit oben stand, ergab sich für ihn keine Verbesserung.

      Mittlerweile waren alle sehr lustig, auch die dem traditionell besinnlichen Volksstamm Angehörenden, so dass er völlig unbemerkt das Weite suchen konnte. Er ging durch die verschneiten Wege hinauf zur Museggmauer und


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