Noras Weihnachtstagebuch. Josephina Richardt

Noras Weihnachtstagebuch - Josephina Richardt


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sein! Es war da. Ich war mir sicher. Mir war nicht am ersten Tag das Handy ins Wasser gefallen. So etwas konnte mir nicht passieren!

      Aber es war nicht da. Wie oft ich auch alles drehte und wendete, den Inhalt auf den Bänken in der Haltestelle verteilte… Mein Handy war nicht mehr da. Mein Handy, auf dem sich alle meine Kontakte befanden, zu meinen Kollegen, meinem Chef, meiner Vermieterin. Das Gerät auf dem sich meine neue Adresse befand. Meine Adresse, die ich natürlich nicht auswendig kannte und die ich mir auch nicht noch woanders notiert hatte. Im Gegenteil, kurz bevor ich aufbrach, hatte ich all meine wichtigen Daten auf mein Handy übertragen. Und jetzt stand ich da, ohne irgendetwas und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht einmal die Handynummern meiner Eltern mit Sicherheit aufzusagen wusste. Die Leute in der Station starrten mich schon komisch an. Eine junge Frau, aufgelöst, hektisch mit ihren Armen herumfuchtelnd und hin und her tigernd, kurz davor zu heulen und bestimmt auch noch völlig verstrubbelt aussehend, so wie man eben aussieht, wenn man eine ganze Nacht in einem Bus verbracht hatte. Was für eine denkwürdige Ankunft. Ob das wohl auch in die Weihnachtsstory gehört?

      Ich rannte zurück zum Wasser und blickte in die schmutzig grüne Tiefe. Natürlich sah ich nichts. Dann riss ich mich zusammen. Ich musste nach rechts. So viel wusste ich noch. Das war doch besser als nichts. Ich würde nicht umkehren und den Weg zurück nehmen, den einzigen, den ich kannte. Irgendwie würde ich schon dort ankommen, wo ich hin sollte.

      Langsam packte ich meinen Kram wieder zusammen und entfernte mich von der Haltestelle. Einer von diesen vielen, vielen, geschäftigen Menschen würde mir helfen müssen. Ich suchte mir einen nicht ganz so beschäftigt aussehenden, älteren Herrn aus, der vor dem Bahnhof auf den Treppen stand und bat ihn, sein Handy benutzen zu dürfen, um in meinen E-mails meine Adresse zu finden. Der Herr erlaubte mir nicht nur, sein Telefon zu benutzen, er stellte sich auch noch als englischer Gentleman heraus und erzählte von sich, seiner Frau und ihrem jährlichen Urlaub in Venedig. Glück im Unglück, er kannte sich aus und konnte mir tatsächlich eine anschauliche Wegbeschreibung zu meiner Straße liefern. Erleichtert wünschte ich ihm eine gute Heimreise und machte mich auf, durch die gepflasterten Gassen des Viertels Cannaregios. „Wehe, wenn einer von euch Rollen jetzt kaputtgeht“, drohte ich meinem Koffer leise. Der ratterte daraufhin bloß noch ein Stückchen lauter.

      Trotz meines insgesamt eher negativ aufgewühlten Gemütszustandes, kam ich nicht umher, die Schönheit dieser Stadt zu bewundern. Venedig ist einzigartig, daran gibt es keinen Zweifel. Ich

      erinnere mich an dieses Viertel. Damals vor vielen Jahren an Silvester befand sich mein Hotel ebenfalls in Cannaregio, nahe dem jüdischen Ghetto. Dort wo jetzt auch meine Wohnung sein würde. Die Erinnerungen meiner Kindheit und meiner Jugend begannen sich mit diesen frischen Momenten zu vermischen. Sie wurden überlagert von einem neuen Geschmack, der damit einherging, dass ich diese Stadt nun nicht wie ein Tourist betrachtete, sondern wie jemand, der für ein paar Wochen sein neues zu Hause hier vorfinden würde. Es war ein wenig seltsam. Wie zwei verschiedene Bilder, die nicht ganz zueinanderpassen wollten.

      Meine Wohnung liegt direkt am Kanal, im Erdgeschoss. Ich mache die Haustür auf und ich sehe Boote an mir vorbeifahren. Außerdem liegt sie wohl in einer der zwei Gegenden, wo abends noch etwas los ist. In meiner Straße reihen sich Bars und Restaurants aneinander, Cafés und kleine Läden. Ich höre die Menschen anstoßen. Gläser klirren. Gelächter weht zu mir herüber. Es hört sich teilweise an, als stünden sie direkt in meinem Wohnzimmer. Ich denke, daran werde ich mich mit der Zeit gewöhnen. Sie stehen auch direkt vor meinen Fenstern und meiner Tür. Wenn ich die Haustüre öffne, fällt mir glatt einer hinein. Immerhin habe ich Gitter vor den Fenstern. Ansonsten mag ich meine Wohnung sehr. Sie ist hübsch eingerichtet, fühlt sich an wie ein Heim. Sie ist mit allem ausgestattet, was mir einige Kilos erspart hätte, hätte ich das vorher gewusst. Ich habe einen Fernseher, der englische Sender zeigt, ein Doppelbett und einen kleinen Garten nach hinten raus. Schade, dass kein Sommer mehr ist.

      Jeden Tag kommt das Müllboot. Ich musste den Zettel zweimal lesen. So etwas Skurriles hatte ich selten gehört. Aber natürlich gibt es das Müllboot. Da die Venezianer Wert auf akkurate Mülltrennung legen, nimmt es nicht jeden Tag dasselbe mit. Bis auf den regulären Hausmüll steht jedem Müll ein anderer Tag zu. Ich darf mir nun aussuchen, ob ich zwischen sechs und acht Uhr in der Früh für den Müll aufstehe, oder ob ich warte, bis der Müllmann bei mir klingelt, um sich den Müll persönlich abzuholen. Wer hat denn so etwas schon einmal gehört? Woher will der Müllmann überhaupt wissen, ob ich meinen Müll nicht schon um sechs rausgebracht habe? Außerdem bringe ich in der Regel nicht jeden Tag meinen Abfall weg… Das venezianische Leben ist interessant, keine Frage.

      Meine Vermieterin wohnt über mir. Viel kann ich zu ihr nicht sagen, wir erinnern uns, ich habe so gut wie nichts von dem verstanden, was sie zu mir gesagt hat. Sie ist eine ältere, leicht gebückt gehende Dame mit einem dunkelgrauen Lockenschopf auf dem Kopf. Auf ihrer Nase sitzt eine schiefe Nickelbrille an einer Goldkette. Sie ist ungefähr eineinhalb bis zwei Köpfe kleiner als ich und hat eine Neigung dazu, den linken Zeigefinger nach oben zu recken, als würde alles, was sie von sich gibt, dazu dienen, einen zu belehren. Oder als würde sie jedes einzelne ihrer Worte betonen wollen. Sie trug ein Wollkleid, als sie mich empfangen hatte, mit Stützstrümpfen und etwas, das ich als Gesundheitsschuh bezeichnen würde, während meine Mutter „bequemer Schuh“ dazu gesagt hätte.

      …Ich fühle mich rastlos. Vielleicht auch etwas verloren. Ich sollte gerade meinen Traum leben, stattdessen weiß ich nicht, was ich hier eigentlich tue. „Abhauen“ ist schön, aber gleichzeitig macht das Reisen nur Spaß, wenn man ein zu Hause hat, zu dem man zurückkehren kann. In meinem Kopf sehe ich all die gemütlichen Momente vor mir, im Bett, auf der Couch; unser Lachen. Ich rieche den köstlichen Duft eines frisch gekochten Currys in unserer Küche. Ich sehne mich danach, über schlechte Fernsehprogramme zu lästern. Wie baut man sich überhaupt einen Alltag in einem anderen Land auf?

      Aber es spielt keine Rolle. Ich kann nicht zurückgehen. Denn zu Hause und mein altes Leben existieren nicht mehr. Egal wo ich bin, ich habe keinen Alltag. Also kann ich genauso gut hier anfangen mir wieder einen aufzubauen.

      Über Weihnachten soll ich schreiben. Wie ich schon sagte, das Leben ist komisch. Ich glaube nicht an Weihnachten mit all seinem glitzernden Firlefanz. Weihnachten ist meistens stressig, teuer und so schnell vorbei, dass man es gar nicht richtig mitbekommt. Und am Ende ist man um lauter Dinge reicher, mit denen man nichts anfangen kann, die man aber, wenn es blöd kommt, aus Höflichkeit auch nicht entsorgen kann. Die Hosen passen einem nicht mehr und zu allem Überfluss steht Silvester schon vor der Tür, wo der ganze Stress weitergeht und sich jeder am besten gleich eine ganze Weinflasche alleine genehmigt, denn der Jahresrückblick fällt meistens nicht recht positiv aus. Was soll daran wunderbar sein?

      Henry hätte es wunderbar gefunden. Er hätte den Zauber gesehen. Und er hätte ein weiteres Mal versucht, mich ebenfalls zu verzaubern. Ob er es wohl jemals aufgegeben hätte?

      Hätte ich noch eine Chance, diesmal würde ich es zulassen. Ihn nicht auslachen und genervt abwimmeln.

      Auf einmal wünsche ich mir so sehr, diesen Funken zu sehen, den er immer gesehen hat. Vielleicht wäre er mir dann näher. Aber ich kann es nicht. Der Funke ist fort, wie auch Henry fort ist. Und ich bin ganz alleine in Venedig. - Irgendwie auch fort.

       Nora

Bild 33

      Dienstag, 2. Dezember

      Liebes Tagebuch,

      mein zweiter Tag in Venedig und mein erster Weg führten mich nicht zu den typischen Hotspots

      – nein, ich war wirklich nicht als Erstes am Markusplatz – sondern zurück Richtung Bahnhof Santa Lucia, ein Stück weiter über die große Ponte della Costituzione nach Piazzale Roma, dem Ort, von wo aus Busse nach Mestre und aus Venedig heraus fahren. Die Ponte della Costituzione ist die vierte Brücke, die den Canale Grande überspannt und passt mit ihrem gläsernen und stählernen futuristischem Aussehen so gar nicht in Venedigs altehrwürdige Fassade. Aber da mein Handy


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