Noras Weihnachtstagebuch. Josephina Richardt

Noras Weihnachtstagebuch - Josephina Richardt


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wäre wohl zu einfach gewesen, wenn ich ohne weitere Schwierigkeiten im Nave de Vero, dem Einkaufszentrum in Mestre angekommen wäre. Leider haben die italienischen Busse die Angewohnheit, nicht an jeder Haltestelle zu stoppen, geschweige denn diese überhaupt anzusagen. Natürlich bin ich zu weit gefahren. Und ohne Google Maps bedeutet das im Klartext, ich war einmal mehr hoffnungslos verloren. Mit meinem gedrucksten, selbstbeigebrachten Italienisch versuchte ich mir den Weg zu erfragen. Nach der dritten Person beschloss ich, mich nach Italienischkursen zu erkundigen.

      Tatsächlich wurde ich später zu Hause fündig. Es gibt einen vierwöchigen Intensivkurs vor Weihnachten. Zwar hat er schon angefangen, aber es kann nicht schaden, trotzdem anzufragen. Es wäre

      sicher nicht unpraktisch für meinen kurzen Aufenthalt und meine Recherche wenigstens ein paar Grundkenntnisse zu besitzen. Die zwei Stunden am Tag würde ich sicher aufbringen können.

      Zurück in Mestre bin ich nach zwei Stunden

      Herumgeirre doch noch im Nave de Vero angekommen (weder das Kaufhaus, noch meine unfreiwillige Erkundungstour haben meinen ersten Eindruck von Mestre revidiert). Und auch wenn dieser Besuch meinen Geldbeutel erheblich erleichtert hat, so bin ich immerhin wieder online erreichbar und vor allem, dank Google Maps, geografisch orientierter. Außerdem – ich muss ein Geständnis machen – konnte ich nicht an mich halten und bin um ein Schuhpaar reicher. Dazu gesagt werden muss aber, dass es das bequemste Schuhpaar ist, das ich je besessen habe. Ein Gefühl wie auf Wolken! Da läuft es sich mit Schuhen fast besser als ohne. Und bevor mir jetzt gleich jemand eins auf den Deckel gibt, auf dem Heimweg sind tatsächlich meine jetzigen Boots auseinander gefallen. Ungelogen! Beide! Erst der linke, dann der rechte. Auf einmal haben beide Sohlen beschlossen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, sich abzulösen und mir einen schlurfenden, verkrampften Schritt zu verpassen. Da trifft es sich doch gut, dass ich zufällig ein neues Paar dabei hatte. Die alten wanderten in den Mülleimer und ich besitze insgesamt noch immer genauso viele Paare wie vor meiner Abreise. Das war doch einmal eine günstige Fügung des Schicksals.

      Als ich aus Mestre zurückkam, machte ich mich an meine eigentliche Arbeit; ich schlenderte durch Venedigs Gassen und ließ ihre Atmosphäre auf mich wirken.

      Jetzt sollte der Part kommen, in dem ich anfange zu schwärmen, von sinnlichen Klängen, die durch die Lüfte schallen und sich mit dem köstlichen Duft von Maroni, Mandeln und Waffeln vermischen. Aber ich muss euch enttäuschen. Ich fand nichts dergleichen. Tatsächlich habe ich mich ein wenig gewundert. War ich zwar keine Mrs. Santa Claus, so hatte ich doch mit etwas mehr Adventsstimmung gerechnet. Ich konnte mich noch gut an meine Silvestererfahrung erinnern und damals hatte Venedig in Bezug auf Weihnachten einiges mehr zu bieten gehabt. Dabei war Weihnachten schon vorbei gewesen. Es hatte einen richtigen Weihnachtsmarkt gegeben, viele gemütliche Holzbuden, die sich um eine Eisfläche scharrten. Neben dem Markusdom stand damals eine riesige, rot-gold geschmückte Tanne.

      Im Internet habe ich gelesen, dass es zwei Weihnachtsmärkte geben soll, diese aber erst am 8. Dezember eröffnen. Vielleicht hatte sich das Weihnachtsfeeling an die Italiener angepasst. Alles geschieht eben etwas später hier unten. Ich hoffe zumindest, dass dies der Fall ist. Ich brauche wenigstens etwas Stoff, um eine Story zusammenzubasteln.

      Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, worüber ich überhaupt schreiben soll. Mein Ziel war es immer gewesen, Texte zu schreiben, deren Kern aufrichtig ist und die Menschen auf die ein oder andere Art berühren. Jetzt war ich hier und hatte diesen einen Oberbegriff und absolut keinen Schimmer, wie ich diesen aufgreifen sollte.

      Ich hätte Henry fragen können. Henry war nämlich wahrlich ein Santa Claus gewesen. Er hätte es sogar hier geschafft, den Weihnachtszauber zu finden. Immerhin war es Dezember, da musste er irgendwo zu finden sein. Mein zynisches Ich fuhr ihm bereits gedanklich über den Mund. Aber ein anderer, neu erweckter Teil von mir, wünschte sich, ihn zu finden.

      Ich setzte meinen Weg Richtung San Marco fort. Von meiner Wohnung dauert es ungefähr eine halbe Stunde, plus / minus zehn Minuten, je nachdem wie schnell ich laufe. Dabei komme ich prak-

      tischerweise an den wichtigsten zwei Brennpunkten der Stadt vorbei; über Rialto zum Markusplatz.

      Ich überquerte eine der vielen, vielen kleinen Brücken, lief eine kurze Gasse entlang und an dessen Ende begegnete mir der erste weihnachtliche Spirit. Zu meiner rechten erstreckten sich die Schaufenster des edlen Kaufhauses Fondaco dei Tedeschi und gestatteten mir wohlwollend einen Blick auf seine glitzernden Christbäume. Geschmückt mit gläsernen Zuckerstangen und glänzend pinken Ornamenten erstrahlten die Tannen wie Märchenbäume. Und ganz natürlich schienen sie sich in das Innere des Geschäftes einzufügen. An seinen äußeren Wänden rankten sich grüne Zweige mit hunderten von kleinen Lämpchen empor.

      Nur eine dünne Glaswand trennte mich von dieser eigenen kleinen Welt und einen Moment verharrte ich dort. Falls ich in Venedig selber nicht auf meine Geschichte käme, hier könnte ich sie vielleicht finden.

      Ich folgte den Fenstern zum Ende der Gasse, die sich zum Campo San Bartolomeo hin öffnet. Das Kaufhaus schlängelt sich rechter Hand um die Ecke, säumt den Weg zu einer der zwei berühmtesten Brücken Venedigs: der Rialtobrücke. Zunächst erhascht man durch die enge Gasse nur einen kleinen Blick auf den scheinbar weiß strahlenden Fuß der Brücke. Wie magnetisch angezogen folgt man dieser hellen Verheißung und schreitet durch das Gässchen Richtung Canale Grande. Und sobald man die Ecke erreicht hat, aus der Gasse heraustritt, da ragt sie vor einem empor: imposant, majestätisch und elegant.

      Mit angemessenem Respekt schritt ich die niedrigen Stufen zur Brückenmitte empor. Vor mir erstreckte sich der Canale Grande in seiner vollen Pracht. Es ist der einzige Kanal in Venedig; alle anderen Kanäle werden als rio bezeichnet. Doch für den Canale Grande gibt es keinen anderen Namen. Er ist wahrlich grande.

      Links sah ich das Paketboot parken. Daneben liegt die Gondelanlegestelle. In der Ferne konnte ich die langen schwarzen Sicheln ausmachen. Sanft schaukelten sie auf kleinen Wellen, gesteuert von einer einsamen Figur, die nirgendwo anders hinzugehören schien als genau hierher.

      Ich sog die kühle Luft in meine Lungen und verfolgte einen Seemöwenschwarm, der scheinbar genau vor meinen Augen durch die Lüfte tanzte. Unter mir tauchte die Spitze eines Bootes auf. Sie wuchs in Breite und Länge bis Rialtos Schlund das Wassertaxi freigab und es seinen Weg den Kanal hinunter fortsetzte. Es war Nachmittag und das Licht begann bereits langsam zu schwinden. - Das Zeichen für die Laternen entlang des Canale zu leuchten. Aus unerfindlichen Gründen spürte ich meine Augen feucht werden. Die Abenddämmerung war meine liebste Tageszeit, aber das alleine war es nicht. Es war wunderschön. Ganz egal, ob Venedig nun eine Weihnachtsstadt war, sein würde, oder auch nicht; diese Stadt bahnt sich einen Weg in dein Herz, vom ersten Augenblick an.

      - Selbst wenn dieser zu wünschen übrig lässt.

      Und zu diesem Zeitpunkt begriff ich bereits, dass sie sich noch viel tiefer in meiner Seele einnisten würde. So tief, dass sie einen permanenten Fußabdruck darin hinterlassen würde. Und noch etwas anderes spürte ich dort auf der Rialtobrücke

      zwischen einem Haufen Touristen auf der Suche nach dem perfekten Selfie und illegalen Rosenverkäufern; diese Reise ist wichtig für mich. Auf die ein oder andere Weise werde ich mich verändern. Und vielleicht werde ich am Ende sogar ein bisschen Frieden gefunden haben.

      Auf dem Rückweg machte ich zum ersten Mal die Erfahrung, dass Venedig tatsächlich wie das Innere einer Uhr funktioniert. Unglaublich kompliziert, verschachtelt und auf den ersten Blick undurchschaubar. Ich könnte schwören, der Rückweg sah ganz anders aus als der Hinweg!

      Gassen verschoben sich wie die Treppen in

      Hogwarts. Wege, die im Kanal oder an einer Mauer enden, tauchten aus dem Nichts auf. Palazzi, die ich noch nie gesehen hatte, nahmen mein Blickfeld ein, dafür fand ich andere Geschäfte beim besten Willen nicht wieder. Man sollte sich wohl angewöhnen, überall gleich hineinzugehen. Oder eine Marke auf Google Maps zu setzen.

      Und während ich so durch die Straßen lief, fand ich ihn. Ich bog um eine Ecke und auf einmal war er einfach da. Direkt vor meiner Nase. Ein kleiner Laden, am Ende einer Sackgasse.

      Normalerweise


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