Noras Weihnachtstagebuch. Josephina Richardt

Noras Weihnachtstagebuch - Josephina Richardt


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sie suchen. Oder was es ist, das sie suchen.“ Sie nickte in Richtung des Füllers in meiner Hand. „Du musst etwas Außer-

      ordentliches zu geben haben, wenn du dieses Geschenk erhalten sollst. Zweite Chancen sind selten. Nutze sie weise.“

      Wieder verfingen sich ihre Augen mit meinen. Ein Strudel an unbenennbaren Empfindungen. Und noch immer war ich keinen Deut schlauer geworden. Da nahm sie mir das Schreibgerät sanft aus der Hand, wickelte es in Papier und legte es vorsichtig in einen schneeweißen, länglichen Karton. Dann runzelte sie kurz die Stirn, legte einen Finger an die Lippen und griff schließlich nach einem dunkelviolettem Tintenfässchen. „Das sollte das Richtige sein“, sprach sie eher zu sich selbst als zu mir. Sie legte es ebenfalls in den Karton und band eine große goldene Schleife um das kleine Paket. Die weiße Pappe war samtweich, die Schleife wehte sacht im Luftzug, rauschte wie seichte Meereswellen, die sich am Strand verliefen. Mir wurde leicht schwindelig.

      „Bedenke, jeder ist selbst dafür verantwortlich, wie er mit einem Geschenk umgeht. Es liegt allein bei dir. Der Preis bestimmt sich am Ende.“ Dann schnellte ihre Hand nach vorne und so schnell hatte ich gar nicht gesehen, hielt sie einen meiner Mantelknöpfe in ihren Fingern. Den ließ sie in der merkwürdigen Kasse verschwinden und mit einem weiteren pling schloss sich das Fach wieder. Mit offenem Mund starrte ich sie an. In ihren Augen lag nun ein schelmisches Funkeln. „Ein kleines Andenken an jeden unserer Gäste bewahren wir uns auf. So erfahren wir, wie die Geschichte ausgegangen ist. Und nun ist es, denke ich, Zeit für dich zu gehen.“

      In dem Moment, in dem sie es aussprach, war ich derselben Meinung. Als wäre sie die Manifestation meiner Gedanken. Und wie ich vorher keine Kontrolle über meinen Körper gehabt hatte, so bewegte er sich auch jetzt ohne mein Zutun. Kurz vor dem Ausgang fiel mein Blick noch einmal auf die leeren alten Bücher. Nur dass sie nicht mehr völlig unbeschrieben waren. Hastig griff ich nach einem

      dicken, kobaltblauen Schmöker. Auf dessen Rücken befand sich auf einmal ein Titel in mir fremden Buchstaben. Ich schlug das Buch in der Mitte auf. Dort waren noch mehr dieser Buchstaben. Meine Finger fuhren über die spröden Seiten. Wie war das nur möglich? Vorher waren die Seiten noch komplett weiß gewesen! ...Oder etwa nicht?

      „Wie...“, begann ich, sah auf, sah die Dame verloren an. „Wie was?“, fragte sie freundlich. Ich sah zurück auf das Buch. Die Buchstaben waren immer noch da, aber nicht mehr so wie eben noch vor einer Sekunde. Sie hatten sich verschoben, spannen nun eine völlig andere Geschichte, eine über Zwerge und Drachen. Meine flache Hand schlug auf die Seite, als würde sie die Buchstaben davon hindern wollen, ihren Platz zu wechseln.

      „Geschichten haben ihren eigenen Charakter. Sie verändern sich. Es gibt viele Versionen ein und derselben Erzählung. Und alle sind sie wahr.“ Sie entwand mir das Buch und stellte es zurück an seinen Platz. „Manchmal kommt es bloß darauf an, für welche wir uns entscheiden. Und wiederum manchmal“ – dabei drehte sie sich zu mir – „müssen wir uns nicht entscheiden, sondern einfach ihren Wegen folgen. Auf Wiedersehen Nora. Und alles Gute für die deinige Geschichte.“

      Alles, was danach geschah, das liegt irgendwie, irgendwo im Nebel verborgen. Jetzt jedenfalls, sitze ich an meinem Tisch, vor mir mein Tagebuch und in meiner Hand gleichzeitig schwer und federleicht mein neuer, wunderschöner Glasfüller. Wäre er nicht, ich wäre überzeugt, ich hatte bloß geträumt. Deutlich konnte ich mich an die Einzelheiten erinnern, dennoch war alles eingefangen in einer surrealen Seifenblase.

      Die tief lilafarbene Tinte saugt sich in meine Tagebuchblätter. Die Buchstaben bleiben so stehen, wie ich sie angeordnet habe. Ich hatte gedacht, dem Schreiben mit einer Glasfeder bedarf es ein wenig Übung, doch anscheinend wusste meine Hand genau, was zu tun war. Mit keinem anderen Stift, ob Füller oder Kuli, hatte ich je so sichere und elegante Buchstaben gesetzt.

      Er pulsiert in meiner Hand. In seinem Inneren glitzert das Gold, scheint zu glühen und zu fließen wie Lava. Wahrlich, welch wundersames Geschenk…

       Nora

Bild 34

      Mittwoch, 3. Dezember

      Liebes Tagebuch,

      womit soll ich anfangen. Wie soll ich anfangen? Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht. Irgendwo auf dieser Reise hierher habe ich meinen Verstand verloren. Anders kann ich es mir nicht erklären. Vielleicht habe ich auch einen Unfall gehabt, bei dem ich auf dem Kopf gelandet bin. Ich schreibe wirr, aber ich bin es auch. Also verzeih die krakelige Schrift. Was rede ich eigentlich? Das ist doch völlig nebensächlich… Vielleicht sollte ich von vorne beginnen. Alles von Anfang an aufrollen. Der Morgen war ein guter Morgen. Ja, damit kann ich anfangen. Am Morgen war noch alles in Ordnung. Alles verlief in geraden Bahnen.

      Ich stand auf, frühstückte und machte mich auf den Weg Richtung Markusplatz. Diesmal mit dem Ziel auch wirklich dort anzukommen. Ich lief also wieder vorbei am Fondaco dei Tedeschi, warf aber nur einen kurzen Blick nach rechts zur Rialtobrücke und bog nach links ab, durch einen kleinen Durchgang, über eine weitere Brücke und immer den gelben San Marco Schildern nach. Und dann war ich dort. Ich lief unter dem Glockenturm hindurch und da erstreckte sich der größte Platz Venedigs vor mir: la Piazza San Marco, an drei Seiten eingerahmt von den imposanten Prokuratien.

      Die zweistöckige Fassade wird von Zinnen gekrönt und die einzelnen Loggien sind durch Friese voneinander abgetrennt. Das Ganze, inspiriert vom venezianisch-byzantinischen Stil, macht Alfred de Mussets Bezeichnung „Salon Europas“ alle Ehre. Unter der vornehmen Überdachung der Prokuratien kann man einmal um den gesamten Platz herumschreiten und dabei die vielen Schaufenster mit ihren natürlich völlig überteuerten Auslagen bewundern. Souvenirshops, Glas- und Schreibwarengeschäfte (von der normalen Sorte), Taschenboutiquen… Und natürlich Gelato.

      Hier befinden sich auch einige Cafés, darunter das berühmte Café Florian, in dem eine heiße Schokolade mit Sahne 13€ und eine Cola 11€ kostet. Damals als Teenager bin ich nicht dazu gekommen, aber in diesem Urlaub, werde ich es mir einmal gönnen.

      Auf der linken Seite des Glockenturms thront die Basilica di San Marco. Das majestätische Monument wurde nach dem Vorbild der Apostelkirche in Konstantinopel errichtet. Man kann nicht anders, als diese Kirche zu bestaunen. Fünf Kuppeln heben sich über Venedig empor und erinnern daran, wo sich das Herz dieser Stadt befindet. Ich bin nicht gläubig, doch sogar mir verschlägt es im Inneren die Sprache. Und so betrat ich nach vielen Jahren wieder meine Lieblingskirche. Bei meinem letzten Besuch waren es die ornamentalen Marmor- mosaike am Boden, die mir am deutlichsten in Erinnerung blieben. Jetzt war es das Gold, das mich schier überwältigte. Ich hatte Mühe nirgends gegenzulaufen, denn mein Kopf lag konstant in den Nacken gelegt. Die „goldene Basilika“ strahlt. Und auch wenn ich noch nie im Morgenland gewesen bin, so stelle ich es mir doch irgendwie genauso vor.

      Als ich die Kirche verließ, ließ ich meine Augen den Campanile, den Markusturm, hinaufwandern. Ich erinnerte mich, dass ich damals das Glück gehabt hatte, genau zu der letzten Gruppe zu gehören, die hinauf durfte. Und so hatte ich den Sonnenuntergang über Venedig gesehen. Der rote Ball war am anderen Ende des Markusplatzes versunken und unter mir hatten die Kuppeln über ihre Stadt gewacht wie sie es seit hunderten von Jahren schon tun.

      Nicht ganz so hoch, meines Erachtens aber schöner, ist der Glockenturm, der „Eingang“ zum Markusplatz, wie ich ihn bezeichne. Die Mitte der weißen Fassade ziert seine Namensgeberin: das aus Lapislazuli gefertigte Zifferblatt der astronomischen Uhr, die Sonnen-, Mondphasen und Tierkreiszeichen vereint. Ich wartete, bis ich zur vollen Stunde den bronzefarbigen Mohren zusehen durfte, wie sie die Zeit auf der großen Glocke in ihrer Mitte anschlugen.

      Nach vorne hin öffnet sich der Markusplatz zum Wasser. Während ich darauf zulief, lief ich gleichzeitig bereits an der kurzen Seite des Dogenpalastes vorbei, der neben dem Markusdom steht. Der Palazzo Ducale ist ein weiteres Gebäude, an dem ich mich nicht satt sehen kann. Es ist insbesondere der Marmor, der den Palast so beeindruckend macht. Dezent, aber durch Schönheit


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