Noras Weihnachtstagebuch. Josephina Richardt

Noras Weihnachtstagebuch - Josephina Richardt


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das selbst im Dunkeln hervorsticht. Ich folgte seinem Verlauf am Wasser entlang. Dabei kam ich automatisch an der im Schnitt wohl vollsten (abgesehen von Rialto) Brücke Venedigs vorbei. Es ist natürlich jene, die den Blick auf die zweite berühmteste Brücke (ebenfalls neben Rialto) freigibt: der Ponte dei Sospiri, der Seufzerbrücke. Hier drängen sich die Touristen zu jeder Jahreszeit mit ihren Selfiesticks und Stativen. Alle wollen sie das eine Foto auf dem sie vor einem Ort lächeln, an dem Menschen früher das letzte Mal auf die Stadt geblickt haben, bevor sie in dunklen Kerkerzellen landeten. (Natürlich habe ich bereits ein Foto. Und natürlich mache auch ich ein weiteres von mir.)

      Mein nächstes Ziel war die nahe gelegene Vaporetto Station San Zaccaria, eine der wichtigsten Stationen mit vielen Anlegestellen. Hier würde sie beginnen, die Reise in den mentalen Abgrund.

      Oder vielleicht hatte diese Reise auch bereits begonnen, als ich nach einem Italienischkurs gesucht habe. Oder vielleicht auch schon, als ich hierher gekommen bin. Wer weiß das schon. Jedenfalls habe ich gestern Abend noch eine E-mail von einem Massimo bekommen, der mich für den nächsten Tag – also für heute – herzlich in diesen italienischen Crashkurs einlud. Er meinte, es sei kein Problem, dass ich bereits etwas Stoff verpasst hatte, das könne ich sicher nachholen. Der Kurs findet von Montag bis Freitag von 10 bis 12 Uhr in der Venice International University auf San Servolo statt. Die Insel San Servolo ist eine Vaporetto Station und ungefähr 10 Minuten vom Markusplatz entfernt. So weit ich das gesehen habe, befindet sich hauptsächlich die Uni mitsamt ihrem Campus dort und noch ein Museum.

      Ich brauche Vaporetto Nummer 20, welches von Stopp B abfährt.

      Ich kann von der Insel erzählen. Erstaunlich grün, im Sommer sicherlich ein kleines Paradies. Kieswege, die zu den Campus-Unterkünften, dem Barbecue- und den Sportplätzen führen. Ein Platz mit den Außenstühlen und -tischen des Unicafés. Auf der einen Seite eine Art Holzbalkon, man steigt die dunkelbraune Holztreppe hinauf und vor einem erstreckt sich die offene Lagune.

      Die Uni selber ähnelt mehr einer teuren Privatschule als einer Uni oder einer seiner früheren Einrichtungen (zuerst war es ein Kloster, dann ein Krankenhaus und schließlich eine psychiatrische Anstalt). Pastellfarbene (ungefähr wie der Palazzo Ducale) Wände mit Kronleuchtern ausgestattet, alles sehr sauber und vornehm und hell. Das Vaporetto hält praktisch genau vor dem Eingang. Man steigt aus und vor einem liegt die weiße Fassade, die einen mit ihren großen Rundbögen, dem Balkon und den zwei kleinen Grünflächen vor dem Eingang mit einer Palme auf der einen und zwei kleinen Bärenstatuen auf der anderen an einen fernen exotischen Ort versetzt. Ich trat in eine Eingangshalle. Links und rechts stehen so etwas wie goldene Kamine, in denen automatisches goldenes Feuer in einer Endlosschleife fließt.

      Am Front Office erfragte ich mir den Weg zu meinem Klassenraum. Bequeme rot gepolsterte Stühle warten dort auf mich und ein Fenster auf Venedigs Kulisse und die Lagune, das in mir die Frage aufrief, wie irgendwer hier aufpassen sollte. Das forderte das träumerische aus-dem-Fenster-starren geradezu heraus.

      Es war ein seltsames Gefühl, sich als erwachsenen Frau in der Schulbank niederzulassen. Aber viel Zeit, um darüber nachzudenken, blieb nicht. Ich bin sicher, meine Klassenkameraden waren nett. Ich meine, mich an ein paar freundliche Gesichter zu erinnern, ein Lächeln hier, ein Lächeln da. Aber all das, sowie meine ganze erste Italienischstunde verschwindet im Strudel des Schocks beim Anblick meines Professors.

      Ich hatte einen Massimo erwartet. Einen Herrn um die vierzig. Einen Italiener wie er im Buche steht. Aber der Mann, der den Klassenraum betrat, war kein Massimo. Es war ein Henry. Und ab diesem Moment verliefen die Bahnen meines Lebens nicht mehr gerade.

      Ich schreibe es auf. Ich sehe es schriftlich vor mir. Es ist nicht minder verrückt. Und unmöglich. Das letzte Mal, das ich Henry gesehen habe, war an einem Montagabend, am 23. September. Draußen hatte der Regen gegen die Fensterscheiben geprasselt. Aber da stand er, in Venedig, auf San Servolo und stellte sich mir als mein neuer Professor vor.

      Henry mit seinen hellblauen Augen und seinen hellbraunen, immer leicht verstrubbelten, leicht gelockten Haaren. Henry mit seinem Grübchen auf der linken Wange. Mit seinem schelmischen

      Lächeln, das ihn zu einem Lausbub in einem

      Erwachsenenkörper machte. Henry, der auch noch tatsächlich so hieß; Henry Dunne, ein Name, der auf irische Vorfahren zurückgeht.

      Wie Zwillinge, zwei Hälften eines Ganzen, haben sie immer gesagt. Ich war nie recht sicher, ob das nun ein Kompliment war. Kurzzeitig hatte ich sogar überlegt, mir meine karamellfarbenen Wellen zu färben. Immerhin wollte ich nicht aussehen wie die Schwester meines Freundes, sondern wie die umwerfende Frau an seiner Seite.

      Henry hatte gelacht. Gut für die Fotos hatte er gemeint und mich daraufhin eng an sich gezogen. Mein Kopf endete genau an seinem Kinn. Ich hatte meistens eine Schnute gezogen. Und so waren sie alle, unsere Bilder. Ein fröhlicher Mann, der die etwas miesepetrig dreinschauende Frau umarmte. Beinahe dieselben Haare, einmal kurz, einmal etwas über schulterlang. Bloß unterschiedliche Augen: blau und bei mir ein Karamellton. Wir hatten gut zusammen ausgesehen, das stimmte. Aber aus irgendeinem Grund hatte mir das Bauchschmerzen bereitet. Als wäre da etwas auf Bildern verewigt, dem ich noch nicht einmal zugestimmt hatte.

      Als wir uns kennengelernt hatten, waren wir beide in einer ähnlichen Position. Ich war das erste Mal alleine für eine Story unterwegs. Es ging darum, die ältesten Cafés Münchens aufzuspüren und in einer Liste vorzustellen. Vollgepumpt mit Adrenalin war ich wild entschlossen, die beste Aufzählung zu schreiben, die die Menschheit je über Cafés gelesen hatte. Und Henry, ein ambitionierter Fotograf, war wild entschlossen, die besten Vintage Fotos für meinen Artikel zu schießen. So lernten wir uns kennen. Zufällig zu einem Team zusammengewürfelt, beide jung und mit großen Plänen. Schon die schienen perfekt zueinander zu passen. Unsere Leidenschaft und Entschlossenheit hatte uns vom ersten Augenblick an verbunden. Und zusammen entwarfen wir einen Artikel, der vielleicht nicht der beste der Welt war, der es aber immerhin auf die erste Seite geschafft hatte. Damals war das für uns beide der größte Erfolg. Wir trafen uns, um diesen zu feiern. Und damit waren die Grundsteine unserer Beziehung gelegt.

      Es war auch die Basis, auf der wir am besten funktionierten. - Wenn wir als Journalistin und Fotograf zusammen an einem Projekt arbeiteten. Wenn wir versuchten, unsere Karriere voranzutreiben. Dann sprachen wir eine Sprache, die wir beide verstanden. Es gefiel mir, mich nicht erklären zu müssen, einen Partner an meiner Seite zu haben, der dasselbe wollte. Es war so einfach.

      Henry wollte mich in seinen Fotos haben. Und wenn ich alleine auf diesen Fotos war, dann lächelte ich auch.

      Henry hatte ein faszinierendes Talent verschiedene Stimmungen einzufangen. Es war immer das Licht und der Winkel. Durch Henrys Kamera sah ich verspielt aus, glamourös, unheimlich, verführerisch, unwirklich. Durch seine Kamera sah ich schön aus.

      Es ging nie wirklich um uns. Henry wollte dieses Territorium betreten, aber ich hatte ihm die Tür mehr oder weniger verschlossen. Fragt mich nicht, wieso. Ich weiß es nicht. Auf einmal war eine zweite Sprache aufgetaucht, die ich mich weigerte zu lernen. Henry wollte mehr. Er wollte mich. Ich wollte die Karriere. Ich wollte uns so, wie wir waren. Ich dachte, wir hätten eine glorreiche Zukunft vor uns, wenn wir als Team weiterarbeiteten. Ich erkannte nicht, dass das eine das andere nicht ausschloss. Und ich erkannte auch nicht, was das Wichtigere von beidem war.

      Die Chance diese Tür wieder zu öffnen, bekam ich nicht mehr.

      Und jetzt ist er auf einmal hier. Mein Henry und doch nicht mein Henry.

      „Ich hatte einen Massimo erwartet“, hatte ich mühsam gekeucht. Er hatte mir die Hand geschüttelt, hatte sie festgehalten. Es fühlte sich genauso an, wie ich es in Erinnerung hatte. Fest, warm, stark und sanft. Alles zugleich.

      „Nun, ein Massimo bin ich zwar nicht, aber einen Henry Dunne gibt es wenigstens nur einmal hier“, hatte er mit einem Augenzwinkern geantwortet.

      Er kannte mich nicht. Natürlich nicht. Es war nicht Henry. Und doch… Wie ist das möglich? Wie kann dieser Mann genauso aussehen und genauso heißen wie mein Henry? Mich schwindelt es jetzt noch bei dem Gedanken an ihn und daran wie


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