Noras Weihnachtstagebuch. Josephina Richardt

Noras Weihnachtstagebuch - Josephina Richardt


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herausquoll und die Fußgänger überfiel. Er sah eher aus wie etwas aus der Winkelgasse, alt und doch nicht alt, aus einem fernen Land und doch genau richtig. Ich weiß nicht, was es war, das meine Aufmerksamkeit so fesselte. Es war wie ein magnetisches Ziehen, das von dem Geschäft ausging und sich mit meinem Körper verband. Eine helle, glühende

      Anziehungskraft, die alles andere verschwimmen ließ. Meine Füße gehorchten ganz von alleine. Der Laden schien viereckig, hatte eine hölzerne Eingangstür auf der linken Seite und ein großes Fenster, das den Rest der Vorderseite einnahm. Anders als bei anderen Schaufenstern pries er keine Waren an. Es war überhaupt seltsam. Es schien sich überhaupt nichts darin zu befinden, bzw. doch, aber ich konnte nur verschwommene Schemen ausmachen. Als blickte ich durch milchiges Glas, dabei war die Scheibe blitzsauber. Ich legte meine Handfläche dagegen. Sie fühlte sich warm und glatt an. Definitiv real. Meine Handfläche pulsierte. Als hätten sich die beiden Magnetenden endlich verbunden. Energie floss durch meine Adern. Es war beinahe wie ein Rausch. Als hätte ich mich irgendwie von dieser Welt gelöst. Im Nachhinein kann ich nicht erklären, warum ich davon ausging, dass es sich um ein betretbares Geschäft handelte. Kein Schild, kein gar nichts wies darauf hin. Ganz instinktiv wanderte meine Hand zu dem verschnörkelten Messingtürgriff und drückte ihn nieder. Die Tür schwang geräuschlos auf; ein Glöckchen ertönte irgendwo über meinem Kopf. Und dann klärte sich auf einmal meine Sicht. Als hätte man mir eine Brille abgenommen. Und ich befand mich nicht mehr in Venedig.

      Das Innere war komplett aus blitzblank poliertem Holz. Die Luft verströmte einen leichten Duft nach Kaminfeuer, altem Papier und Zuckerwatte. Da standen zahlreiche Regale und Tische. Über allem schien ein Glanz zu liegen. Aber das war albern. Luft konnte nicht glitzern. Und doch war es irgendwie so. Genauso wie ich glaubte, wie aus weiter Ferne Laute von einem Rummelplatz zu vernehmen. Lachen und klingende Musik, ein Bimmeln und ein Vorbeirauschen von Fahrgeschäften.

      Ich machte einen Schritt nach vorne und meine Schuhe klackten leicht auf den Holzdielen. Überrascht hielt ich inne. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, lautlos zu sein. Das Geräusch machte das ganze auf merkwürdige Art und Weise real. Über meinem Kopf flog ein kleines rotes Flugzeug hinweg. Was um alles in der Welt...

      Der Flieger verschwand zwischen den vielen Regalen aus meinem Blickfeld. Ich folgte ihm und tauchte ein in dieses kunterbunte Durcheinander. Da war eine Wand voller venezianischer Masken. Keine hatte auch nur entfernt Ähnlichkeit mit denen, die man an jeder Straßenecke fand. Riesige goldene Pferdeköpfe reihten sich an schwarze Katzenmasken, die scheinbar aus echtem Fell bestanden. Eine Maske für das ganze Gesicht bestand aus regenbogenfarben schillernden Schuppen. Eine war aus tausenden von winzigen weißen Federn geformt. Eine andere zeigte ein weinendes Gesicht. Tränen tropften aus den Augen. Ich blinzelte.

      Das Tuten einer kleinen Dampflokomotive lenkte mich ab. Das kleine schwarze Gefährt folgte Schienen, die sich über alle Tische durch den ganzen Laden schlängelten. In einem Regal saßen Stoff- und Porzellanpuppen nebeneinander. Auf einem Tisch rollten Knöpfe umher. Sie wirkten irgendwie traurig… Wie konnten Knöpfe traurig sein?

      In einer anderen Ecke standen uralt aussehende Bücher. Als ich sie in die Hand nahm, schienen sie zu seufzen. Alle waren sie unbeschrieben. Ich stellte sie vorsichtig zurück. Ich entdeckte Halsketten, jede mit einem anderen Stein versehen. Ich nahm sie in die Hand, um sie näher zu betrachten. Im Inneren bewegte ich etwas. Mit offenem Mund hielt ich die Anhänger einzeln vor meine Augen. In jedem Stein spielte sich eine andere Szene ab: Schnee fiel auf eine bereits verschneite Winterlandschaft, ein Fluss rauschte zwischen Felsen hindurch. Adler kreisten über mächtige Berge. Einer flog direkt an meinem Auge vorbei und stieß einen kleinen Schrei aus. Gleichzeitig machte ich einen Satz rückwärts. Dabei stieß ich gegen einen

      weiteren Tisch. Und dieser faszinierte mich auf der Stelle. Hunderte von bunten Glasfüllern verteilten sich auf der ebenen Fläche. Manche klein und dick, andere lang und schlank. Füller, die sich vorne in einer dunklen Metallfeder verjüngten, andere die komplett aus Glas bestanden. Manche mit einer echten Vogelfeder versehen und wieder andere, deren Griff sich aus vielen winzigen Glasperlen zusammensetzte. Manche kamen mit einem Füllfederhalter, andere mit Siegel und edler Verpackung. Tintenfässer in verschiedenen Farben ragten

      zwischen den einzelnen Meisterwerken hervor. Silber metallic glänzend, blutrot, so tiefblau wie der ewige Ozean.

      Das Licht brach sich in dem Glas und brachte die Farben zum Tanzen. Mein Blick wanderte über diesen Reichtum. So viel konnten meine Augen gar nicht auf einmal aufnehmen. Und selbst wenn ich Stunden hier stehen würde, hätte ich doch noch immer nicht alles gesehen.

      Es war wie vorhin, als ich auf der Straße stand und dieses Wunderland entdeckte. Ein zufälliger Blick und etwas schob sich ineinander. Von allen Füllern war dieser eigentlich der unauffälligste. Er war mittelgroß, sodass er gut in der Hand liegen würde, komplett aus kristallenem Glas, das sich nach hinten hin spiralförmig verjüngte. Vorne verband eine durchsichtige Perle den Halter mit einer Träne aus Glas als Feder.

      Sanft nahm ich ihn die Hände. Es klingt verrückt, doch es war, als hätte er dort nur auf mich gewartet. Selten hatte sich etwas so…richtig angefühlt. Und während ich diesen Schatz hielt, bemerkte ich die feinen goldenen Linien im Inneren des Glases. Wie ein zarter aber starker Fluss bahnten sie sich ihren Weg durch ihren gläsernen Behälter, sammelten sich in der Spitze und ließen diese aufleuchten.

      „Ja, dieser hier ist etwas ganz besonderes.“

      Ich fuhr zusammen und konnte den Füller gerade noch festhalten. Aus dem Nichts war hinter mir diese Dame aufgetaucht. Ich weiß nicht, wie ich sie sonst bezeichnen soll. Es war mir unmöglich, ein Alter festzustellen. Ich weiß, ich bin schlecht im Schätzen, aber diese Frau war mehr ein zeitloses Wesen. Wie alles hier. So gesehen, war es wohl nur natürlich, dass sie sich auf einmal materialisiert hatte. Sie hätte 40 sein können, aber auch 60 und wenn ich blinzelte auch 20 oder 30. So viele Gesichter vereint in einem einzigen. Die Haltung aufrecht, ungefähr genauso groß wie ich, die (schneeweißen?, silbernen?, weizenblonden?) Haare hochgesteckt, zusammengehalten von zwei langen schwarzen Haarnadeln, auf denen ein goldener Drache thronte. Sein Schwanz zuckte leicht…

      All diese Merkwürdigkeiten hatten mich verstummen lassen. Ich starrte sie bloß an. Sie legte den Kopf leicht schief. Ihren smaragdgrünen Augen fingen die meinen ein und in diesem Moment war es, als würde sie mich lesen. Seltsamerweise war es kein unangenehmes Gefühl. Nur äußerst kurios. Sie lächelte sanft und entließ mich aus ihrem Sog. Ich hatte vergessen zu blinzeln.

      „Er gehört zu dir. Du hast ihn gesucht und er hat dich gefunden.“

      Verblüfft schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich…“, begann ich, wusste das Ende meines Satzes jedoch nicht. Die Dame lächelte wieder und wandte sich an einen Verkaufstresen, von dem ich schwöre, dass er vorher noch nicht dagewesen war. Sie tippte etwas in ein Gerät ein, hinter dem ich eine sehr altmodische Kasse vermutete. Etwas klingelte und ein Fach fuhr mit einem pling heraus. „Moment, ich will nichts kaufen.“ Bevor mein letztes Wort verklungen war, spürte ich den Füller schwer in meiner Hand. Er protestierte. Ich zögerte. Dieser Laden war bestimmt nicht billig. So schön dieses Schreibgerät war, brauchen tat ich es nicht.

      „Wie viel würde der hier denn kosten?“, wagte ich die Frage.

      Die Dame schüttelte langsam den Kopf. „Wir zahlen hier nicht mit Geld.“

      „Mit was denn dann?“, fragte ich verblüfft und kurz hatte ich Angst, mich in irgendetwas Illegalem oder Schandhaften verfangen zu haben.

      Sie lächelte. „Nun, das kommt ganz auf die Person an.“

      Sie schien auf etwas zu warten. „Ich bin leider nicht sehr gut in Rätseln“, murmelte ich, aus irgendeinem Grund leicht beschämt. Die Dame lachte leise und ich glaubte dabei das Bimmeln kleiner Glöckchen zu vernehmen. „Dies ist kein

      gewöhnlicher Laden, Nora. Wir verkaufen nichts. Wir machen Geschenke. Zu uns kommen Menschen, die auf der Suche nach etwas ganz Speziellem sind. Etwas, das es an keinem Ort der Welt für auch noch so viele Geldscheine zu erwerben gibt. Die wertvollsten Dinge lassen sich nicht mit Währungen bezahlen.“

      Woher


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