Reichsgräfin Gisela. Eugenie Marlitt
und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in die Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte... So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Manne lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugetan gewesen war, lebte nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken, hatte auf der weiten Gotteswelt nun niemand mehr als ihn, und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm her geschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die tote Mutter... Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, tränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten!... Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich wie an die Tatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal beteuert, daß sie ihn »unendlich liebe« und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen?...
Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Klavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei »Pfarrers« gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgerät – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Kandidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und es nach Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheiratet hat... Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Turmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradierung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kalkwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor allem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein selten gesehenes Schauspiel.
Sobald die Sonne erloschen war, dämmerten drüben in dem ziemlich entfernt liegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Korridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken durchfluteten – so war selbst zu Prinz Heinrichs Lebzeiten nicht beleuchtet worden. Ebenso durchströmte eine wohldurchwärmte Luft den mächtigen, alten Bau von der Mansarde bis zum weiten, hallenden Vestibül herab, und auf den Treppen und Vorplätzen, wohin der Fuß auch treten mochte, lagen weiche, warme Teppiche. Aus dem Treibhause hatte man die wohlbehütete Orangerie in das Schloß herübergeschafft, und die hohen Orangen-, Myrten- und Oleanderbäume, einst Prinz Heinrichs Stolz und der Gegenstand seiner fast zärtlichen Sorgfalt, standen jetzt wie diensttuende Lakaien an der Mündung der Treppen und in den Vorsälen, um einen leichten Traum von Sommergrün und Sonnenwärme zu erwecken – und das alles um eines Kindes, eines kleinen schwächlichen, verwöhnten Mädchens willen!
Baron Fleury hütete die kleine Gisela wie seinen Augapfel; man hätte fast meinen können, sein ganzes Denken und Sinnen bewegte sich einzig um dies zarte Geschöpfchen und sein Gedeihen. Die Welt schlug ihm diese zärtliche Fürsorge um so höher an, als Gisela nicht sein Kind war... Wie wir wissen, hatte die Gräfin Völdern eine einzige Tochter, die in erster Ehe mit dem Grafen Sturm verheiratet war. Man erzählte sich allgemein, diese Ehe, die aus gegenseitiger glühender Neigung und, wie man wußte, eigentlich gegen den Willen der Gräfin Völdern geschlossen worden war, sei eine sehr unglückliche gewesen und die junge Gräfin habe keine Ursache gehabt, den entsetzlichen Sturz mit dem Pferde zu beweinen, an dessen Folgen ihr Gemahl nach zehnjähriger Ehe starb. Die Gräfin hatte drei Kinder geboren, von denen nur das jüngste, die kleine Gisela, am Leben blieb... Zu derselben Zeit, wo Graf Sturm aus der Welt ging, wurde Baron Fleury fürstlich A.scher Minister. Man munkelte ferner, Seine Exzellenz habe bereits zu Lebzeiten des Gemahls eine heimliche Neigung für die schöne Gräfin gehabt, und diese Behauptung wurde insofern bestätigt, als der Baron nach Ablauf des Trauerjahres um die Hand der Witwe warb und sie auch erhielt. Die boshafte Welt flüsterte freilich, die Bevorzugung verdanke er weniger seinen persönlichen Eigenschaften, als seinem Einfluß am Hofe zu A., durch den sich die Gräfin Völdern den Zutritt habe wiederverschaffen wollen; denn, einmal als die Freundin des Prinzen Heinrich und später erst recht als dessen beglückte Universalerbin, hatte sie lange in Bann und Acht leben müssen... Sie erreichte übrigens durch die zweite Heirat der Tochter ihren Zweck vollkommen, und die Zeit, wo sie am A.schen Hofe wieder erscheinen durfte, galt noch in späteren Jahren in den Augen der Hofschranzen für »eine himmlische«.
Sie hatte einen niegesehenen Glanz um sich verbreitet durch ihre noch immer bezaubernde Erscheinung und ihre Reichtümer, die sie mit vollen Händen ausstreute, um den schlüpfrigen Boden unter ihren Füßen zu befestigen... Diese Triumphe genoß sie indes nicht lange. Die Baronin Fleury starb, nachdem sie einen toten Knaben geboren hatte, im Wochenbett, und drei Jahre später verschied die Gräfin Völdern – »leicht und selig wie eine Gerechte« – sagte der Volksmund und mit ihm Sievert. Sie war nur zwei Tage krank gewesen, hatte, als gläubige Katholikin, regelrecht, in aller Form die letzte Ölung empfangen und war hinübergeschlummert mit einem fast kinderhaft unschuldigen Lächeln, und von nah und fern kamen die Leute, um das engelschöne Wachsbild im Sarge zu sehen, die Frau, die so viel gesündigt und nie – gelitten hatte... Die fünfjährige, nun völlig verwaiste Gräfin Gisela blieb im Hause ihres Stiefvaters und war alleinige Erbin der sämtlichen gräflich Völdernschen Besitzungen, mit Ausnahme von Arnsberg, das sich schon längst nicht mehr im Besitze der Gräfin Völdern befand. Zum großen Erstaunen der Welt hatte nämlich die Universalerbin wenige Monate nach Antritt ihrer Erbschaft das Schloß mit dem dazu gehörigen Areal an Wald und Feld dem ihr damals noch völlig fernstehenden Baron Fleury um die Summe von dreißigtausend Talern, und zwar unter dem allgemein belächelten, sehr empfindsam klingenden Vorwande verkauft, daß ihr diese Besitzung als der Sterbeort ihres Freundes, des Prinzen, allzu schmerzliche Erinnerungen wecke.
Das reichsgräfliche Kind erschien demnach auf seiner Flucht vor dem Nervenfieber nicht als Herrin, sondern als Gast des Stiefvaters in Schloß Arnsberg. Letzterer hatte übrigens Sieverts Voraussetzung nicht wahr gemacht; nach nur zweitägigem Aufenthalt war er abgereist, um sich zu seinem Fürsten zu begeben, der fern von A. auf einem Jagdschloß verweilte... Jutta hatte den Minister nicht wiedergesehen. Am Tage nach dem Hinscheiden der Blinden war Frau von Herbeck in das Waldhaus gekommen, um im Namen Seiner Exzellenz zu kondolieren, und das prachtvolle Bukett, das bei der Beerdigung zu Füßen der Toten lag, stammte aus dem Arnsberger Treibhause – wer der Unglücklichen in ihren letzten Lebensstunden gesagt hätte, daß ein Blumengeschenk von seiner Hand mit ihr in ein und demselben Totenschrein modern würde!...
Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Im klingenden Eispanzer, den Saum des schwer nachschleppenden Schneemantels bis an die Fenstersimse der niedrigen Bauernhütten werfend, schritt es über den Thüringer Wald hin; froststarre Tränen hingen an seinen Wimpern, und das Wehen seines Atems scheuchte alles warme Leben hinter die schützenden Türen und Mauern; aber die Tannenkrone über seinem lieben Heiligengesicht blitzte wie ein Königsdiadem – die kalte Wintersonne stand unverhüllt am klarblauen Himmel und weckte bleiche Funken in jedem Eiszapfen – und mit bezeichnendem Finger streifte es hier und da über eine einzelne junge Fichte im Schlag; sie stand da und träumte im dämmernden Winterschlaf von Wachsen und Großwerden, von der Zeit, wo ihr schlanker Stamm sich hoch in die blauen Lüfte hinaufrecken und mit seiner Spitze