Reichsgräfin Gisela. Eugenie Marlitt

Reichsgräfin Gisela - Eugenie Marlitt


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– und sie erwacht plötzlich, von milder, warmer Luft geweckt; ihr kleiner Wipfel ragt nicht in den Himmel, und die roten Blüten schlummern unverschlossen weiter, wohl aber sind die Sterne von droben herabgesunken und flammen auf den kleinen Zweigen, und das arme, erschrockene Fichtenbäumlein ist selbst zur Blume geworden, zur strahlenden Wunderblume des Winters – o du süße, selige Weihnachtszeit!...

      Auch auf dem blühenden Gesicht der Pfarrerin von Neuenfeld lag es wie wahrer Sonnenschein. Diese etwas derben, aber sehr regelmäßigen Züge trugen zwar immer das köstliche Gepräge ungetrübter, fast schelmischer Heiterkeit; allein jetzt lachte auch etwas wie verheimlichte Freude heraus. Die Frau hatte ja sieben Kinder, und diese sieben abgöttisch geliebten Blondköpfchen sollte sie in glückseliger Überraschung unter dem Weihnachtsbaum sehen... Es war diesmal keine leichte Aufgabe gewesen, die Christbescherung zu beschaffen – die Kartoffeln waren nicht geraten, und der Herr Pfarrer hatte einen neuen Winterrock unbedingt nötig gehabt – indes, ein viermaliger Gänsebraten auf dem Tisch eines armen Thüringer Landgeistlichen war sündhafter Luxus, und deshalb ließ die Pfarrerin drei Stück ihrer vier fetten, wohlgeratenen Gänse leichten Herzens gen A. ziehen, wo sie gut bezahlt wurden. Die einzige Kuh im Stalle des Pfarrhauses lieferte zwar nach wie vor dieselbe Menge Milch; dennoch kam jetzt wöchentlich ein Pfund der berühmten Neuenfelder »Pfarrbutter« mehr auf den Markt; die Pastorin aß seit Monaten ihr Frühstücksbrot und die Abendkartoffeln nur mit Salz, und Rosamunde, die alte Magd, übte sich tapfer mit bei diesem Enthaltungssystem. Und endlich kam der Tag, wo die mühsam ersparten Groschen und Pfennige in Gestalt von verschiedenen Paketen nach dem Pfarrhause zurückwanderten. Während die alte, halberfrorene Botenfrau hinter der verriegelten Küchentür mit verklommenen Fingern Stück um Stück der weit hergeschleppten Schätze aus ihrem Tragkorb holte, kauerten drei kleine Mädchen mäuschenstill draußen auf der uralten, ausgehöhlten Schwelle. Die dicken Blondzöpfe fest an die Türritzen gedrückt und ihre kleinen, frierenden Hände unter die Schürze steckend, horchten sie nach echter Evaweise, indes drei wilde Jungen, das Erfolglose des Schlüssellochguckens endlich einsehend, den Genuß der beharrlichen Schwestern durch Zupfen an den Kleidern und Zöpfen zu verkümmern suchten. Da fiel ein Etwas mit leise schmetterndem Geräusch auf den Backsteinfußboden der Küche und rollte weiter. – »Eine Nuß!« jubelte der Chor selbstverräterisch auf, und die Pfarrerin öffnete leise lachend ein Paket und hielt es geräuschlos an die Türspalte – ach, Pfefferkuchen! – Wo wäre eine Kinderseele, die sein Duft nicht sofort in die Welt der Weihnachtswunder versenkte!

      Von diesem fröhlichen, geheimnisvollen Treiben im unteren Stockwerk wurde Jutta nicht im entferntesten berührt. Sie kam nur zur Tischzeit in die Familienstube. Das neue schwarze Wollkleid mit den Kreppstreifen um den Halsausschnitt fiel in weichen Falten, eine lange Schleppe bildend, auf den Boden nieder und verlieh der Gestalt, die plötzlich sehr beherrschte, hoheitsvolle Bewegungen angenommen hatte, eine Art von stiller Majestät. Dieser Eindruck wurde erhöht durch das lilienweiße Gesicht mit den meist festgeschlossenen Lippen – die reizenden Grübchen, die das Lächeln in den Wangen des jungen Mädchens vertiefte, hatten die Bewohner des Pfarrhauses noch nicht gesehen – und die Sorgfalt, mit der ihre zarten, leuchtendweißen Hände den nachschleppenden Kleidersaum beim Eintritt in die Wohnstube aufnahmen, galt nicht allein dem sandbestreuten Fußboden, es war zugleich ein zwar graziös, aber auch sehr bestimmt ausgedrücktes »Rühr mich nicht an!« für die Kinderschar. Die Kleinen blickten denn auch verschüchtert nach dem stummen, ernsten Tischgast hinüber; das lustige Geklapper der Löffel und Gabeln klang gemäßigter, und die allzeit rührigen Mäulchen schwiegen gedrückt und verlegen.

      Der Pfarrer ehrte Juttas »tiefe, wortlose Trauer«, er begegnete ihr um derentwillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf –, das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und teilnahmslos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die »stille, wortlose Trauer« flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Klavierübungen wieder aufgenommen und »raste« oft stundenlang über die Tasten. Indes, der echte, brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicherweise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Bertold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgnis, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur einmal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt hatte und stundenlang im Freien umhergelaufen war.

      Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hier und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.

      Nun war der Heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisieren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Atem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.

      Im kleinen eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körner feinen Rauchpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Dunstwölkchen mischten sich mit dem starken Aroma, das aus der auf dem Sofatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Tür des Ofens floß ein intensiver Glutschein und hauchte rötliche Tinten auf das elegante Klavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein fraulicherer Raum als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke ließ sich wohl nicht denken.

      Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Ästen stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf verbarg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Augenblicke alle Beziehung zur Außenwelt verliert. Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher nicht ein Wort von dem Geplauder der beiden Damen, die hinter ihr auf dem Sofa saßen.

      Frau von Herbeck hatte den Arm um Juttas feine Taille gelegt. Die Dame war, trotz ihrer ziemlich vorgeschrittenen Jahre, noch sehr hübsch; das ließ sich gerade in diesem Augenblick feststellen, wo sie sich neben der unvergleichlichen Schönheit des jungen Mädchens recht gut behauptete. Für den feinen Kenner weiblicher Reize waren wohl diese Körperformen zu kolossal und üppig, und manches feinfühlige, reine, weibliche Gemüt mochte sich instinktmäßig von dem oft eigentümlich lächelnden und zugleich schwimmenden Blick abwenden; allein jene Körperfülle erschien so kerngesund und rosig frisch, und die großen, ein wenig vorstehenden Augen konnten in geeigneten Momenten auch wieder so ernsthaft und ehrenhaft dreinblicken, daß das öffentliche Urteil diese Frau einstimmig schön, respektabel und sehr liebenswürdig nannte... Sie war die kinderlose Witwe eines armen, altadligen Offiziers und war bereits zu Lebzeiten der Gräfin Völdern als Giselas Erzieherin im Hause des Ministers tätig gewesen. Stets unbedingt und gewandt auf die Absichten der Großmutter bezüglich des zu erziehenden Kindes eingehend, war sie von der ersteren noch auf dem Sterbebette als diejenige


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