Reichsgräfin Gisela. Eugenie Marlitt

Reichsgräfin Gisela - Eugenie Marlitt


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denn nachher?... Da ist mir mein Gaul doch viel lieber – ich will deinen alten Elefanten gar nicht!«

      Damit rollte er peitschenknallend weiter. Gisela sah ihm betreten nach. Sie war gewohnt, daß die Dienerschaft nach ihren Händen haschte und sie zu küssen versuchte, wenn sie Geschenke austeilte, und hier wurde sie so schnöde zurückgewiesen. Noch mehr aber empörte es sie, daß der Junge den »schauderhaften« Gaul so beharrlich schön fand. Sie warf einen Blick auf ihre Gouvernante, allein die war in ein Gespräch mit Jutta vertieft und führte eben mißtrauisch langsam die Teetasse an die Lippen, um sie sofort mit einem leisen Schauder wieder hinzustellen.

      Das seltsame Kind, das so wenig die Gabe besaß, sich anzuschließen, stand einsam inmitten des Weihnachtsjubels; seine Abneigung gegen die Puppenwelt ließ es jene Ecke fliehen, wo zwei kleine Mädchen ein dickköpfiges Wickelkind fütterten, und vom »Dicken« war ja der einzige Annäherungsversuch so gründlich abgefertigt worden... Aber dort an einem Seitentisch, auf dem heute ausnahmsweise auch ein Licht brannte, stand der Erstgeborene des Hauses, ein ungefähr neunjähriger Knabe, und neben ihm die Schwester, die ihm im Alter folgte. Beide lasen eifrig, alles um sich vergessend, in einem Buche. Auf den fleckenlosen sauberen Tisch hatte das kleine Mädchen sein schneeweißes Taschentuch gebreitet, und erst auf diesem lag das Buch wie ein Allerheiligstes; die Kinder wagten kaum mit den äußersten Fingerspitzen die neuen Blätter umzuwenden – es waren die Grimmschen Märchen, die der Vater unter den Christbaum gelegt hatte.

      »Die Sterntaler«, las der Knabe mit halblauter Stimme. »Es war einmal ein kleines Mädchen –« Mit zwei Schritten stand Gisela neben ihm, der Anfang klang verlockend. Sie verstand schon fließend zu lesen, und eine so eigentümliche grübelnde Richtung auch die Geisteskräfte dieses noch so jungen Wesens bereits annahmen – die Märchenwelt mit ihren nicht zu ergründenden Wundern übte deswegen doch ihren ganzen bestrickenden Zauber auch auf diese Kinderseele.

      »Gib mir das Buch lieber in die Hand, ich will vorlesen«, sagte Gisela zu dem Knaben, nachdem sie, auf den Zehen stehend, vergebens versucht hatte, einen Einblick in das Buch zu gewinnen.

      »Das tu' ich nicht gern«, antwortete er und fuhr sich verlegen mit der Hand in die blonden Kraushaare. »Der Papa will mir morgen erst den schönen Einband in einen Papierbogen schlagen.«

      »Ich werde ihn nicht verderben«, unterbrach ihn die Kleine ungeduldig. »Gib das Buch her!« Sie streckte die Hand aus. In dieser sehr herrischen Gebärde lag die ganze Zuversicht des verwöhnten vornehmen Kindes, das einen direkten Widerspruch gar nicht kennt.

      Der Knabe maß die kleine Gestalt mit sehr erstaunten Blicken.

      »Oho, so geschwind geht das nicht!« rief er abwehrend. Als Ältester der Kinderschar war er den Eltern bereits eine Stütze bei Erziehung seiner Geschwister. Er hatte die Aufgabe, leuchtendes Vorbild zu sein, und dieses Ehrenamt voll mancher Selbstverleugnung gab ihm sehr viel äußere Würde... Er schlug das Taschentuch schützend um den Einband des Buches und nahm es auf.

      »Nun, meinetwegen, du sollst es haben«, sagte er ernsthaft, »aber du mußt auch hübsch artig sein und bitten – alle Kinder müssen bitten.«

      War die Kleine bereits gereizt durch die Szene mit dem »Dicken«, oder bekam das Bewußtsein ihrer hohen Lebensstellung in diesem Augenblicke wirklich die Oberhand in ihr – genug, aus den schönen, rehbraunen Augen funkelte ein maßloser Hochmut, und dem Knaben den Rücken wendend, sagte sie verächtlich: »Das brauche ich nicht!«

      Die Wirkung dieser Worte war eine große. Der eben vorüberrollende Reiter hielt seinen Gaul an – wenn auch selbst mit einer bedeutenden Dosis Trotz begabt, ging ihm diese unerhörte Antwort denn doch über den Spaß – und die zwei kleinen Ziehmütterchen ließen ihr hilfloses Wickelkind in der Ecke liegen und kamen schleunigst herbei, um mit großen, weitgeöffneten Augen »das ungezogene Mädchen« anzustarren – alle aber wiederholten wie aus einem Munde: »Alle Kinder müssen bitten!«

      Dieser einstimmige Ruf schreckte auch Frau von Herbeck plötzlich aus ihrem Zwiegespräch mit Jutta auf. Das, was die Kinder riefen, und die feindselige Haltung ihrer Schutzbefohlenen ließen sie sogleich begreifen, was vorgegangen war; mit einer so erschrockenen Hast, als sähe sie das gräfliche Kind bereits über einem Abgrund schweben, erhob sie sich und rief hinüber: »Gisela, mein Kind, ich bitte dich, komme sofort zu mir!«

      In diesem Augenblick trat die Pfarrerin, die Fritzchen zu Bett gebracht hatte, ins Zimmer.

      »Sie will nicht bitten, Mama!« riefen ihr die Kinder entgegen und zeigten auf Gisela, die noch unbeweglich mitten im Zimmer stand.

      »Nein, ich will auch nicht!« wiederholte sie, aber diesmal klang ihre Stimme bei weitem nicht mehr so hart und sicher den scharfen, klugen Augen der Pfarrerin gegenüber. »Die Großmama hat gesagt, das schicke sich nicht für mich – nur den Papa darf ich bitten, alle anderen nicht, auch Frau von Herbeck nicht!«

      »Sollte die Großmama das wirklich gesagt haben?« fragte die Pfarrerin ernst, liebevoll, indem sie das Köpfchen der kleinen Widerspenstigen zurückbog und ihr voll in das trotzige Antlitz sah.

      »Ich kann Ihnen versichern, meine beste Frau Pfarrerin, daß dies die unumstößliche Willensmeinung der hochseligen Frau Gräfin allerdings gewesen ist«, antwortete Frau von Herbeck an Stelle des Kindes mit unbeschreiblicher Impertinenz, »und ich sollte meinen, niemand habe wohl mehr Recht zu derartigen Erziehungsmaßregeln gehabt, als gerade sie in ihrer erlauchten Stellung!... Übrigens möchte ich Ihnen – lediglich im Interesse Ihrer Kleinen selbst – den wohlgemeinten Rat geben, ihnen ein wenig klar zu machen, daß sie in der kleinen Reichsgräfin Sturm denn doch etwas ganz anderes zu sehen haben, als in Hinz und Kunz, mit denen sie für gewöhnlich verkehren mögen.«

      Ohne eine Silbe auf diesen »wohlgemeinten Rat« zu erwidern, forderte die Pfarrerin ihren Ältesten auf, den Hergang zu erzählen.

      »Du mußtest zuvorkommender sein«, sagte sie verweisend, als er geendet hatte, »und der kleinen Gisela das Buch geben, sobald du auch nur merktest, daß sie es wünschte – denn sie ist unser Gast, das durftest du nicht vergessen, mein Sohn!« Dann öffnete sie die Tür des Studierzimmers und hieß die Kinder eintreten, um dem Papa gute Nacht zu sagen. Der »Dicke« schob sofort mit einem wehmütigen Abschiedsblick, aber ohne Widerrede, seinen Gaul in die Ecke, die kleinen Mädchen hüllten ihr Wickelkind bis über die Nase in die warme Wiegendecke, und nach einem freundlichen »Gute Nacht!« gegen die Damen schritten sie, nach Alter und Größe wie die Orgelpfeifen, über die Schwelle, um wenige Minuten darauf, unter Anführung der alten Rosamunde, nach der Schlafstube zu marschieren. Der kleinen Gräfin aber gab die Pfarrerin das Märchenbuch in die Hand, führte sie in die anstoßende, wohlgeheizte Kinderstube, deren Tür halb geöffnet blieb, und kehrte dann zu ihren Gästen zurück.

      »Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig, gnädige Frau!« sagt sie mit ihrer tiefen, kräftigen Stimme, während die klaren, blauen Augen tapfer den stechenden Blick der ihr gegenübersitzenden Dame aushielten. »Die kleinen, neugierigen Ohren sollten Ihre weiteren Erklärungen nicht hören, weil sie meinen Erziehungsmaßregeln zuwiderlaufen – nicht wahr, dies Recht hat die bürgerliche Mutter doch auch?... Also, ich soll meinen Kindern Respekt gegen die kleine Gräfin einflößen – wie soll ich das machen, da ich selbst – verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit – bis jetzt nichts dergleichen in mir verspüre?«

      »Ei, ei, meine Liebe, so wenig Demut in einem geistlichen Hause?« unterbrach sie die Gouvernante mit ihrem stereotypen Lächeln; aus der höhnisch gefärbten Stimme aber klang die tiefste Erbitterung.

      Auch die Pfarrerin lächelte, allein mit jenem unvergleichlichen Humor, den die geistige Kraft und Klarheit über das ganze Wesen dieser Frau hauchten.

      »Daran fehlt's bei uns wirklich nicht«, sagte sie mit einer Art schalkhafter Einfalt; »es kommt nur darauf an, wie Sie sich die Demut denken, gnädige Frau... Ich weiß recht gut, daß die echte, rechte Pfarrersfrau zu allererst auf dem Boden von Gottes Wort stehen soll, und bemühe mich auch redlich um diese Ehrenstelle; aber eben weil ich mich an die Bibel halte, so weiß ich auch, daß sie Gottesfurcht und Gottesverehrung von mir verlangt, aber beileibe nicht Furcht und Götzendienst vor den Menschen.«


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