Machtspiel. Madlen Schaffhauser
dem Einen war ein älteres Ehepaar zu sehen. Wahrscheinlich Rauls Eltern. Das Andere zeigte eine ziemlich junge und hübsche Dame mit roten, langen Haaren. War das seine Freundin oder sogar seine Frau? Wie konnte er sie dann heute Morgen küssen? Sie nahm es in Ihre Hände, um die Person genauer zu betrachten.
„Was machen Sie da?“ erklang Rauls Stimme schroff von der Tür her.
Erschrocken stellte Chloe den Rahmen mit der jungen Frau an seinen Platz zurück.
„Entschuldigen Sie bitte. Das war nicht meine Absicht.“
Unbesänftigt fuhr er weiter „Ach nein. Was dann? Was haben Sie gesehen?“
Chloe wusste zuerst nicht, wie sie darauf reagieren sollte und entschied sich für die Wahrheit.
„Eine wunderschöne, junge Frau. Ich weiss, es gehört sich nicht. Meine Neugierde war grösser als mein gutes Benehmen.“
Raul zeigte auf das eine Foto. „Meine Mutter Anais und mein Vater Linus.“ Danach nahm er das zweite zur Hand und schaute es lange an. Chloe sah, dass seine Augen einen seltsamen Ausdruck annahmen, den sie nicht zu deuten wusste. Als er dann weiterfuhr, verstand sie sofort.
„Das ist meine kleine Schwester Julia. Sie ist vor zwölf Jahren ums Leben gekommen.“ wieder betrachtete er das Foto seiner Schwester eine gewisse Zeit lang. Als er seinen Blick auf Chloe richtete, erkannte sie den Schmerz in seinen Augen, den seine Gedanken an Julia ihn ihm verursachten.
„Tut mir leid.“ Sie erhob sich aus ihrem Stuhl und ging auf Raul zu. Chloe legte behutsam ihre Hand auf seinen Arm, um ihm Trost zu spenden. Raul spürte ihre angenehme Wärme auf seiner Haut, die ihre Hand auslöste. Plötzlich beugte er sich vor und gab ihr einen weichen, schüchternen Kuss auf ihre Lippen. So unerwartet wie der Kuss passiert war, so überraschend schnell entfernte sich Raul auch schon wieder von ihr.
Er räusperte sich und meinte, dass sie sich zu Sofia begeben sollten. Chloe wusste gar nicht, wie ihr geschah, nahm ihre Tasche vom Stuhl und folgte Raul ins Büro der Protokollführerin. Lunardi klopfte an und trat mit Chloe ein.
„Können wir loslegen?“ fragte Raul an Sofia gewandt.
„Ich bin bereit. Nehmt Platz.“ Sofia deutete auf die zwei Stühle vor ihrem Pult.
In den nächsten Minuten liess Raul Chloe die letzten vierundzwanzig Stunden Revue passieren. Die Immobilienmaklerin erzählte alles was ihr einfiel. Raul stellte zwischendurch gezielte Fragen und Sofia tippte ununterbrochen auf ihrer Tastatur herum, um festzuhalten, was geäussert wurde. Es war nicht einfach für Chloe, über Dana zu reden. Ständig musste sie gegen den Schmerz und die Tränen ankämpfen, die sich in ihr aufstauten.
Nach fast zwei Stunden waren sie endlich mit der Befragung fertig. Müde standen alle drei auf. Chloe verabschiedete sich von Sofia und ging nach draussen. Kaum war sie auf dem Flur, sah sie Finn auf sie zukommen.
„Hi Finn.“
„Hallo Chloe. Seid ihr erst jetzt mit der Befragung fertig geworden?“
„Ja. Ich kann nur hoffen, dass meine Aussage etwas weiterhelfen wird. Und was machst du hier?“
„Ich wollte rasch bei Raul vorbei. Vielleicht haben sie bereits Resultate aus dem Labor.“
In dem Moment kam der Polizist aus Sofias Büro. „Hallo Finn. Wollen wir in mein Büro?“
Finn und Chloe folgten Raul zurück in sein Arbeitszimmer. Raul, der hinter sein Pult schritt, nahm den Telefonhörer ab und gab eine Kurzwahlnummer ein.
„Hei Eileen, konntest du schon irgendwas überprüfen, in Bezug auf Dana Kramer?“
Die Frau auf der anderen Seite sagte etwas und Raul legte den Hörer wieder auf. Kurz darauf erschien Eileen im Büro. In der Hand hielt sie ein Blatt Papier.
„Guten Abend Herr Winter, Frau Kramer.“
Finn und Chloe brachten kein Wort heraus. Sie waren zu nervös auf das, was ihnen Eileen gleich mitteilen würde. Alle vier blieben in einem Halbkreis um das Pult stehen. Niemand von ihnen verspürte Lust sich zu setzten.
Eileen fuhr an den Staatsanwalt gewandt fort. „Wir haben das Couvert mit den Fingerabdrücken nach allen Spuren untersucht. Es sind hundertprozentig die Abdrücke Ihrer Frau, Herr Winter. Wie auch das Blut.“
Finn wurde ganz bleich im Gesicht und setzte sich auf den nächsten freien Stuhl. Er seufzte laut auf und nahm seinen Kopf in seine Hände.
„Das heisst aber noch lange nichts.“ versuchte Raul seinen Freund zu beruhigen. „Solange wir Dana nicht gefunden haben, darfst du die Hoffnung nicht aufgeben, dass es ihr gut geht. Wir haben noch weitere Spuren, die wir verfolgen müssen. Was wir jetzt mit Sicherheit wissen, ist, dass Dana nicht aus freien Stücken von zu Hause wegbleibt.“
„Bis spätestens am Montag haben wir den Finger und die Strickjacke überprüft. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich mehr weiss.“ Auf diese Weise verabschiedete sich Eileen von den übrigen Personen.
Obwohl Finn wusste, wie man bei einem solchen Fall vorging, fragte er Raul trotzdem, wie sie nun weiter verfahren würden.
„Morgen werde ich eine Sitzung einberufen, damit ich mein Team in den Fall einbeziehen kann. Im Laufe des Tages werden zwei Polizisten die Ex-Sträflinge unter die Lupe nehmen. Möchtest du deine Nachbarn selbst befragen, ob sie irgendwas gesehen haben oder soll ich Beamten dafür beauftragen? Ausserdem wollen wir deine Aussage und die der Freundinnen von Dana, protokollieren. Kannst du am Montagmorgen vorbeikommen, damit wir sie aufnehmen können?“
„Wann soll ich da sein?“
„Ist dir acht Uhr recht?“
„Geht in Ordnung. Ich kann nicht untätig rumsitzen, daher werde ich meine Nachbarschaft morgen besuchen und fragen, ob sie jemanden bemerkt haben.
Brauchst du mich noch? Ansonsten werde ich wieder nach Hause gehen und die offenen Fälle durchsehen.“
„Nein, du kannst gehen. Hier können wir momentan nichts weiter machen.“
„Chloe, soll ich dich nach Hause bringen?“
„Das kann ich übernehmen.“ Raul wandte sich an Chloe „Ich möchte, dass Sie mir von Ihren Freundinnen, mit denen Sie gestern aus waren, eine Liste erstellen. Wir werden sie ebenfalls befragen müssen. Wenn es Ihnen recht ist, kann ich sie nachher nach Hause fahren.“
„Ich kann Ihnen die Namen jetzt sofort notieren. Weiss aber die Adressen nicht auswendig. Die müsste ich zu Hause nachsehen.“
„Hier haben Sie eine Stift und Papier.“ Raul schob ihr einen Notizblock über den Schreibtisch. Daraufhin setzte sich Chloe und fing an zu schreiben.
Finn trat neben seine Schwägerin, um sich zu verabschieden. „Wirst du bei deiner Mutter vorbeigehen oder soll ich zu ihr ins Krankenhaus?“
„Das mache ich. Aber lass mir noch ein bisschen Zeit. Bitte.“
„Okay.“ Finn gab Chloe einen Kuss auf die Wange und ging davon.
Wie in Trance notierte Kramer die Namen der Frauen, die gestern Abend beim Mädelsabend dabei waren, denn mit ihren Gedanken befand sie sich bei Ihrer Mutter. Wie sollte sie ihr erklären, was mit Dana geschehen ist? Ein Räuspern holte sie sofort aus ihren Überlegungen und bemerkte, dass Raul neben ihr stand. Er wartete darauf, bis Chloe mit ihrer Liste fertig war, also schob sie ihre Sorgen, um ihre Mam, beiseite.
„Hier.“ Chloe gab dem Polizisten einen Zettel mit vier Frauennamen
Raul nahm ihn entgegen und las sie durch. „Gut. Wollen wir dann mal gehen?“
„Ich hätte nichts dagegen.“
Raul hielt vor einem neuen Mehrfamilienhaus an, in dem Chloe eine Eigentumswohnung besass. Wie sich herausstellte, lebten sie beide in Horw, jedoch nicht im gleichen Viertel und sie waren sich auch bis auf